SdG 12 - Der Goldene Herrscher
empfinde.«
»Genug, um dich ihm anzuschließen, wenn’s zum Tor des Vermummten geht?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wie auch immer, kannst du dir nicht vorstellen, dass wir beobachtet werden? Glaubst du, dass noch nie jemand versucht hat, seinem Schicksal zu entfliehen?«
»Doch, bestimmt. Aber es noch nicht einmal zu versuchen …«
»Ich werde darüber nachdenken, Taxilier. So, jetzt habe ich es mir anders überlegt - die zweite Karaffe Wein wird noch ein bisschen warten müssen. Lass uns in dieser schönen Stadt Spazierengehen. Ich habe Lust, mir diesen eingestürzten Tempel selbst anzusehen. Wir können gaffen wie die Fremden, die wir nun einmal sind, und die Patriotisten werden sich nichts dabei denken.« Sie erhob sich von ihrem Stuhl.
Der Taxilier tat es ihr nach. »Ich gehe davon aus, dass du bereits bezahlt hast.«
»Ist nicht nötig. Imperiale Freigebigkeit.«
»Großzügigkeit gegenüber den Verdammten - das passt überhaupt nicht zu meinem Bild von diesem mörderischen Imperium.«
»Die Dinge sind immer komplizierter, als sie auf den ersten Blick scheinen.«
Gefolgt von den Blicken von einem Dutzend Stammgästen verließen sie das Gasthaus.
Die Sonne verschlang die letzten Schatten auf dem Boden des Innenhofs, und die zunehmende Hitze stieg in Wogen von dem rechteckigen, von hohen Mauern umgebenen Platz auf. Diener hatten den Sand, mit dem der Boden bestreut war, gerecht und geglättet, und so würde er bis zum späten Nachmittag bleiben - bis die Herausforderer in Wartestellung allesamt herauskommen würden, um Übungskämpfe gegeneinander durchzuführen und gemeinsam - zumindest diejenigen, die eine gemeinsame Sprache sprachen - über die merkwürdigen, makabren Umstände ihres Hierseins zu sinnieren und zu grübeln. Im Augenblick jedoch lehnte Taralack Veed an einer Wand im Eingangsbereich und beobachtete Icarium, der langsam an der Außenmauer des Hofs entlangschritt; der Jhag hatte eine Hand ausgestreckt und strich mit den Fingerspitzen über die verblassten Friese auf dem ausgeblichenen, staubigen Stein.
Die verwaschenen Bilder auf dem Fries kündeten von Helden des Imperiums und ruhmreichen Königen, waren allerdings mittlerweile bei den Übungskämpfen durch die Waffen jener Fremden beschädigt worden, die allesamt vorgehabt hatten, den derzeitigen Imperator zu töten.
Somit gab es jetzt nur eine einzige Fußspur, die an der Mauer entlangführte, und einen Schatten - kaum mehr als ein Nichts unter dem großen Krieger mit der olivfarbenen Haut, der stehenblieb, um nach oben, zum Himmel zu schauen, als ein Schwarm unbekannter Vögel quer über die blaue Weite schoss, und dann weiterging, bis er das hintere Ende des Hofs erreichte, wo ein großes, vergittertes Tor den Weg auf die dahinterliegende Straße versperrte. Die Wachen waren jenseits der dicken, rostzerfressenen Eisenstäbe gerade noch auszumachen. Icarium blieb dem Tor zugewandt stehen, verharrte reglos, und das Sonnenlicht entzog ihm jegliche Farbe, als wäre er gerade aus dem Fries zu seiner Linken herausgestiegen, genauso verblasst und verwaschen wie irgendein Held der Vorzeit.
Aber nein, nicht wie ein Held. Niemand betrachtet ihn als Helden. Niemals. Er war eine Waffe, nichts weiter. Aber …er lebt, er atmet, und wenn etwas atmet, ist es mehr als eine Waffe. Heißes Blut in seinen Adern, anmutige Bewegungen, Gedanken und Gefiihle, die sich in seinem Schädel tummeln, Augen, die vor Bewusstsein brennen. Die Namenlosen hatten zu lange auf der steinernen Schwelle gekniet. Hatten ein Haus angebetet, seine aufgeworfene Erde, seine hallenden Räume - warum nicht die lebenden, atmenden Wesen, die in jenem Haus vielleicht wohnten? Warum nicht die unsterblichen Erbauer? Ein Tempel war heiliger Boden - aber nicht aufgrund seiner Existenz, sondern wegen des Gottes, den er ehrte. Aber die Namenlosen sahen das anders. Anbetung, die sich auf absurde Weise ins Extrem gesteigert hat… in Wirklichkeit aber vielleicht genauso primitiv geblieben ist wie eine Opfergabe in einer Felsspalte, eine mit Blut gemalte Zeichnung auf der abgeschürften Oberfläche … oh, das ist nichts für mich, diese Gedanken, die das Innerste meiner Seele zum Frösteln bringen.
Ein Gral, zerfetzt und gezeichnet von Verrat. Von jener Art von Verrat, der im Schatten eines jeden Mannes wartet - denn wir sind sowohl Haus als auch Bewohner. Stein und Erde. Blut und Fleisch. Und so werden wir die alten Räume aufiuchen und die vertrauten Korridore durchschreiten,
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