Sean King 02 - Mit jedem Schlag der Stunde: Roman
Service hatte sie ihre Waffe überall dabeigehabt, sogar auf der Toilette. Man konnte nie wissen, wann sich die SIG mit ihren vierzehn Neun-Millimeter-Patronen als praktisch erweisen mochte.
Augenblicke später hörte Michelle ein weiteres Geräusch – das von schnellen Schritten. Während ihrer Dienstzeit hatte sie gelernt, auf die unterschiedlichsten Schrittgeräusche zu achten. Manche verrieten Angst oder Panik, andere Vorsicht oder Verstohlenheit, wieder andere Entschlossenheit oder Aggressivität. Michelle war sich noch nicht sicher, wie sie die Schritte einordnen sollte, die sie nun hörte. Waren sie harmlos, oder verhießen sie Gefahr? Michelle lief ein wenig langsamer und schirmte die Augen mit einer Hand vor dem Sonnenlicht ab, das durchs Blätterdach fiel. Ein paar Sekunden herrschte völlige Stille, dann waren wieder die raschen Schritte zu hören, diesmal wesentlich näher. Jetzt erkannte Michelle, dass es nicht die rhythmischen Schritte eines Joggers waren: Sie klangen eilig und unregelmäßig und verrieten Angst. Der oder die Unbekannte schien sich jetzt links von ihr zu befinden, doch sicher war Michelle sich nicht. Der Wald streute sämtliche Geräusche, sodass die Richtung schwer zu schätzen war.
»Ist da jemand?«, rief Michelle und zog ihre Pistole aus dem Halfter. Sie rechnete nicht mit einer Antwort und erhielt auch keine. Ein Anflug von Furcht überkam sie, als die Geräusche, die zweifellos von einem Menschen stammten, immer näher kamen. Rasch ließ sie den Blick in die Runde schweifen, da es sich um eine Falle handeln konnte: Eine Person lenkte ihre Aufmerksamkeit ab, sodass eine zweite sie von hinten attackieren konnte.
Michelle lächelte verzerrt. Wenn das der Fall war, würde es den Typen verdammt Leid tun. Dann hatten sie sich die Falsche ausgesucht.
Sie blieb stehen, als sie die Quelle der Geräusche nun deutlich ausmachen konnte. Sie kamen von rechts, von der Rückseite des kleinen Hügels genau vor ihr. Wer immer dort rannte – sein Atem ging keuchend, und seine schnellen Schritte durchs Unterholz verrieten Hektik. In wenigen Sekunden würde der Unbekannte hinter der Kuppe aus Erde und Fels erscheinen.
Michelle entsicherte ihre Waffe und brachte sich hinter einem dicken Eichenstamm in Stellung. Wider besseres Wissen hoffte sie, dass es doch nur ein Jogger war; er würde nicht einmal bemerken, dass sie ihn mit einer Waffe in der Hand erwartete. Erde und Steinchen rieselten über die Hügelkuppe. Jede Sekunde würde der Unbekannte erscheinen. Michelle wappnete sich, beide Hände fest um den Griff der Pistole gelegt und bereit, dem Ankömmling nötigenfalls eine Kugel zwischen die Augen zu jagen.
Ein kleiner Junge kam über die Hügelkuppe gerannt, machte einen langen Satz durch die Luft und purzelte dann mit einem Schrei den steilen Abhang hinunter. Bevor er am Fuß des Hügels war, tauchte ein zweiter, etwas älterer Junge auf. Er konnte rechtzeitig abbremsen und rutschte den Abhang auf dem Hosenboden hinunter, bis er neben dem kleineren Jungen zu liegen kam.
Michelle hätte erleichtert aufgeatmet, hätten die Gesichter der Kinder nicht einen Ausdruck nackten Entsetzens gezeigt. Der Jüngere, dessen Gesicht mit Dreck und Tränen verschmiert war, schluchzte. Der Ältere zog ihn am Hemdkragen hoch; dann rannten beide Jungen weiter, genau in Michelles Richtung, die Gesichter vor Angst und Anstrengung gerötet.
Michelle steckte ihre Waffe ins Halfter, trat hinter dem Baum hervor und hob eine Hand. »Halt, ihr beiden!«
Die Jungen schrien vor Schreck und huschten in panischem Entsetzen rechts und links an ihr vorbei. Michelle wirbelte herum und griff nach einem der Jungen, verfehlte ihn aber. »Was ist denn?«, rief sie ihnen nach. »Ich will euch helfen!«
Sie überlegte kurz, ob sie die Verfolgung aufnehmen sollte, war aber nicht sicher, ob sie die Jungen, deren Beine offensichtlich von nackter Angst angetrieben wurden, trotz ihrer olympischen Vergangenheit einholen konnte. Sie drehte sich wieder um und blickte zur Hügelkuppe hinauf. Was konnte den beiden einen solchen Schrecken eingejagt haben? Oder wer ?
Michelle schaute sich noch einmal in die Richtung um, in die die Jungen geflüchtet waren. Dann bewegte sie sich vorsichtig zum Hügel. Okay, jetzt wird es riskant. Sie überlegte, ob sie per Handy Hilfe herbeirufen sollte, beschloss dann aber, sich die Sache zuerst genauer anzusehen. Sie wollte nicht die Polizei alarmieren, wenn sich herausstellte, dass die Jungen bloß
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