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Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman

Titel: Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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befand sich direkt gegenüber der Admiralität. Außer uns und einer dick eingemummten Oma mit einem Hündchen auf dem Arm stand niemand dort. Die Straßenbahn kam. Wir stiegen in den Anhänger. Er war leer, abgesehen von der Schaffnerin. Nur für uns verkündete sie die nächste Haltestelle: Börse. Ich fragte meine Matka, ob wir weit fahren müssten.
    »Bis zu deinem Zuhause sind es nur fünf Stationen«, sagte sie lächelnd, und die harten Konsonanten klangen bei ihr ganz weich.
    Durch ein Guckloch in der vereisten Scheibe erblickte ich zum ersten Mal nach zwölf Jahren Abwesenheit die zugefrorene Newa mit einer gewaltigen Brücke direkt gegenüber und der Peter-Paul-Festung links von uns. Solche riesigen Weiten innerhalb einer Stadt hatte ich nirgendwo sonst gesehen, weder in meinem Kinderheimland Sibirien noch in meinem Koloniereich Estland. Das erste Gefühl war seltsam – mir klangen regelrecht die Ohren von diesem gewaltigen Raum. Meine Matka sagte auf Russisch etwas zu mir, aber ich war so betäubt von allem, was ich sah, dass ich kaum etwas kapierte. Von dem, was meine Mutter in der eisigen leeren Straßenbahn zu mir sagte, habe ich nur eines behalten: »Mein Sohn, sei vorsichtig, erzähle niemandem, wasmit uns geschehen ist. In diesem Land wird ein Mensch schneller ins Gefängnis gesteckt als ein Setzling in die Erde.« Ich dachte an die Belehrung des Hauptmanns, und mir wurde wieder ganz kalt.
    Mein Petrograder Viertel erwies sich als freundlicher, vertrauter und gewohnter als das bedrückende, herrische Stadtzentrum. Noch waren nicht alle Häuser nach dem Krieg wiederaufgebaut, unverkennbar waren die Spuren der Bombenangriffe, aber auf den Straßen liefen normale Menschen herum, manche lächelten sogar, wenn sie meine Mutter und mich sahen. Eine rothaarige Frau namens Jadwiga öffnete die Tür im zweiten Stock eines alten Hauses auf der Ropschinskaja-Straße, und als sie mich erblickte, stammelte sie etwas in ihrer Sprache, ständig wiederholend: »Matko boska, matko boska.«
    Das geräumige Zimmer mit den zwei Fenstern und dem weißen Kachelofen in der Ecke war sauber und aufgeräumt. Der geheizte Ofen strahlte Wärme aus. Unter einer alten Lampe mit drei geflügelten Jungen mit jeweils drei Leuchterarmen stand ein ovaler gedeckter Tisch. Zwischen dem schlichten weißen Geschirr thronte ein antiker Leuchter mit einer Kerze. In der rechten Zimmerecke hing, wie auf dem Land, ein Bild einer mir unbekannten Muttergottes, die Jadwiga die Madonna von Tschenstochau nannte. Auf dem kleinen Ecktisch darunter stand ein Strauß hübscher Wedel in einer hohen dunklen Vase. Die Frauen nannten diese Wedel hochtrabend Palmen. Hinter einem hohen und sehr breiten Schrank verbarg sich ein Bett, und gegenüber, an der anderen Wand, stand eine Ottomane mit einem schönengrün-rot-schwarz gestreiften Wollüberwurf. Die Wand zwischen den Fenstern wurde von einem Schrank mit alten Büchern und der Büste eines polnischen Dichters eingenommen. Alles, was ich sah, beeindruckte mich so sehr, dass ich es fürs ganze Leben in Erinnerung behielt. Solche Bilder hatte ich bis dahin nur im Kino gesehen, und auch da nur selten – uns waren meist Filme über den Krieg und die Revolution gezeigt worden. Das Zimmer gehörte Tante Jadwiga. Unsere Wohnung im dritten Stock war nach der Verhaftung meiner Eltern an die »Staatsanwälte« gefallen. Deshalb wurden wir fürs Erste von Petrograder Polen aufgenommen.
    Mit einem »dzień dobry« kam ein hochgewachsener alter Mann herein, der sich als mein Taufpate entpuppte. Während meine Mutter und Jadwiga sich in der Küche zu schaffen machten, erzählte mir Onkel Janek, wie ich früher unter den Tischen in seiner Werkstatt herumgekrochen war.
    Das Essen war märchenhaft. Onkel Janek zündete die Kerze an und erhob sein Glas auf die Amnestie, so jedenfalls übersetzte ich mir seine Worte. Die Hälfte der polnischen Reden der Erwachsenen verstand ich nicht, in meinem Kopf purzelte alles durcheinander. Ich hatte noch nicht recht begriffen, in welcher Welt ich mich nun befand, und ich spürte eine gewisse Verlegenheit zwischen mir und meiner Mutter. Wir waren Komplizen im Unglück. Und nahmen nun vorsichtig Kontakt zueinander auf. Vermutlich glaubte auch sie noch nicht recht an das, was uns widerfahren war.
    Ich schlief schon am Tisch ein. Der anstrengende Tag und das gute Essen – Pelmeni in Rote-Bete-Brühe undLinsen mit Möhren – hatten das Ihre getan. Meine Mutter legte mich auf die

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