Sechs Jahre sind die Ewigkeit - Roman
blätterten eine Weile darin, dann ließen sie uns ein und zeigten auf eine mächtige Eichentür. Durch sie gelangten wir in einen geräumigen Saal, der mich irgendwie an die zahlreichen Milizreviere erinnerte, die ich von Sibirien bis Estland gesehen hatte, nur dass er viel größer, prächtiger und sauberer war. Jetzt ist es aus mit mir, nun machen sie mich endgültig fertig, dachte ich in diesem obersten Revier der Greiferriesen. Aber erst mal geschah nichts Schlimmes. Ich sollte mich auf die Eichenbank links von der Tür setzen, am Fenster. Erfreut ließ ich mich direkt neben dem gewaltigen, kochendheißen Heizkörper nieder – ich war ziemlich durchgefroren. Als ich mich einigermaßen aufgewärmt hatte, sah ich mich in der NKWD-Behausung um. Den Saal mit den hohen Decken teilte eine massive Eichenbarriere in zwei Hälften – eine fürdie Greifer, eine für die Allgemeinheit. Zwei Türen befanden sich auf meiner Seite, der für die Allgemeinheit, und zwei auf der anderen. Alle Wände im Raum waren bis über meinen Kopf mit Eiche getäfelt. An der gegenüberliegenden Wand und zwischen den Fenstern standen ebenfalls schwere Eichenholzbänke, ähnlich wie auf Bahnhöfen, nur dass auf ihrer Rückenlehne nicht die Initialen des Eisenbahnministeriums prangten, sondern Schild und Schwert.
Auf der Greiferseite saß an einem Schreibtisch neben der Theke der diensthabende Hauptmann – der Vierundzwanzig-Stunden-Chef im obersten Stabs-Vorzimmer. Aber das Erste, was mir in diesem Riesensaal ins Auge fiel, waren die zwei Porträts, die einander ansahen. Zwischen den beiden Fenstern mit Blick auf den Platz hing ein Bild unseres obersten Führers in weißem Uniformrock mit dem Generalissimus-Stern unterm Kragen und den mir wohlbekannten zusammengekniffenen Lächelaugen eines Kaltmachers. So ein gutes Bild sah ich zum ersten Mal. Das musste von einem begabten, bestimmt sogar berühmten Kunstzeichner stammen. Ich stand sogar auf und trat näher heran, um mir genauer anzusehen, wie es gemacht war.
Der Diensthabende, der mein Interesse bemerkte, sagte nicht ohne Stolz: »Sauber gemalt, was? Wie lebendig!«
Ich gab ihm recht. Wenn er wüsste, dass ich fünf Knastbrüdern den Schnauzbart eintätowiert hatte! Zweien auf dem Oberarm und dreien auf der Brust. Einer hatte mir im Vertrauen erzählt, der Schnauzbart sei einer von uns, ein Krimineller, er habe mehrfach gesessen. Wo mochtensie jetzt sein, diese mit meinen Talisman-Führern gezeichneten Diebe?
Hinter dem geschniegelten Hauptmann hing ein Bild von Zickenbart Feliks Dzierżyński, ebenso groß wie das vom Schnauzbart. Bei seinem Anblick musste ich an ein Erlebnis während des Krieges denken: Ich war damals ein minderjähriger Zögling des NKWD-Kinderheims in Omsk, und in der Silvesternacht bat ich im großen Saal mit der Neujahrstanne den Gründungsvater der Tscheka, dessen Bild an der Wand hing, heimlich auf Polnisch (damals sprach ich noch Polnisch), mir meine Matka Bronia zurückzugeben und meinen älteren Bruder Feliks, seinen Namensvetter, zu Hause Felja genannt, und schwor bei der Muttergottes, mich zu bessern und ein vorbildlicher Zögling zu werden. Aber er erhörte mich nicht.
Der Tagesnatschalnik der obersten Revierstube prüfte gründlich die Mappe mit den Flebben über mich. Hin und wieder wandte er sich mit einer Frage an meinen Begleiter, der diesseits der Theke auf der Seite für die Allgemeinheit stand. Als er einigermaßen durchsah, stand er auf und ging mit einem der Papiere zur Tür. Bestimmt holt er sich jetzt einen Stempel vom Staatsanwalt, dem obersten Natschalnik aller sowjetischen Besserungskolonien, dachte ich. Für meine Begleitpapiere. Mein Bewacher muss schließlich zurück nach Estland.
Plötzlich zwinkerte Trübes Auge mir zu. »Kaiki, poika 14 , bald bist du ein Leningrader.«
Dann trat er zu mir und klopfte mir zum ersten Mal freundschaftlich auf die Schulter.
»Und wann bringen sie meine Mutter?«, fragte ich. »Du kriegst noch eine Belehrung, wie du dich zu verhalten hast, dann wird sie gebracht. Keine Angst. Das war’s – kaiki! Du bist frei!«
Kaum erschien der Hauptmann an der Tür, da verwandelte sich mein estnischer Glückwünscher wieder zurück in einen lettischen Schützen. Er nahm vom Hauptmann ein Papier entgegen, verstaute es in seiner Aktentasche, schlug militärisch die Hacken zusammen, machte linksum kehrt und verließ den Raum, ohne sich von mir zu verabschieden und ohne mit seinem trüben Auge meine Matka Bronia
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