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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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von den Baustellen gewohnt war, auf denen er arbeitete.
    »Wie bitte?«, schnarrte ihre dünne, aber eindringliche Stimme zurück.
    »Nix Uhr, Frau. Nix wissen, wie spät!«
    »Wie bitte?«
    »Sagen Sie halb vier, dann lässt sie Sie in Ruhe«, empfahl ich und fand endlich meinen Schlüssel.
    Die Wie-spät-ist-es-Frau lebte allein. Sophie hatte von einer Nachbarin erfahren, dass sie nie Besuch bekommt. »Nur die Einsamkeit schaut regelmäßig bei ihr vorbei. Als ständiger Gast. Deshalb fragt sie die Leute nach der Zeit. So hält sie Verbindung zur Welt«, erklärte mir meine Frau.
    »Nicht gerade eine interessante Konversation«, antwortete ich.
    Wenn man der Wie-spät-ist-es-Frau etwas anderes als die Uhrzeit zurief, schloss sie sofort das Fenster. An Gesprächen war sie nicht interessiert. Alles andere als die unverbindlichste aller Fragen, die Frage nach der Uhrzeit, war ihr offenbar zu persönlich.
    Gemeine Kinder standen oft in Gruppen unter ihrem Fenster und fragten sie lachend nach der Uhrzeit. »Wie spät ist es, Wie-spät-ist-es-Frau?«
    Kurz glotzte sie mit halboffenem Mund und leeren Augen auf die Kinder und schloss dann schnell das Fenster ihres Biedermeierhäuschens, in dem einst Franz Schubert gestorben war, an Syphilis und Schwindsucht, weil er das Haus gewissermaßen trockenwohnte. Alle Biedermeierhäuser am Wienfluss, durch dessen Bett heute die U4 fuhr, waren durch die Flussnähe und den sandigen Boden bei ihrer Errichtung sehr feucht. Bevor die tatsächlichen Mieter einzogen, konnte man dort seinerzeit für wenig Geld einige Jahre wohnen und heizen und lüften und wieder heizen, so lange, bis das Haus einigermaßen trocken war. Auf dieses »Trockenwohnen« ließen sich arme Menschen ein, die sich hauptsächlich von den Flusskrebsen im Wienfluss ernährten.
    Weil im 18. Jahrhundert im heutigen 4. und 5. Bezirk noch Wein angebaut wurde, gab es damals ringsum viele Heurige und Weinlokale. Auf dem Wandbild im Garten der »Goldenen Glocke« sieht man Schubert noch gesund und jung mit dem Operettenkomponisten Karl Millöcker und anderen Musikern Wein trinken. Das Trockenwohnen machte durstig.
    Im Sterbehaus von Schubert konnte man in einer Vitrine seine berühmte Brille betrachten. Immer wieder pilgerten Schubertianer aus der ganzen Welt zu diesem Haus hierher. »Wie spät ist es?«, hören sie dann zur Begrüßung. » Excuse me ?«, antworten sie oder » Je ne comprends pas «, oder sie antworten höflich auf Japanisch, woraufhin ein schrilles »Wie bitte?« die Luft in der Gasse zerreißt.
    Manchmal hatte die Wie-spät-ist-es-Frau Depressionen. Das war, wenn man unter ihrem Fenster vorbeiging und nichts hörte. Dann schaute man hinauf und sah sie im Nachthemd im Fenster, gestützt auf einen hautfarbenen Polster, ihre wässrigen Augen ins Nichts gerichtet. Frau Dvorak, ihre Nachbarin, die jeden Tag mit ihren drei zotteligen Schäferhunden in Zeitlupentempo Gassi ging, behauptete, in diesen Momenten denke sie an ihren verstorbenen Mann.
    »Ein Boxer war er. Im Krieg hat er irgendwelche schiachen Dinge getan, in Polen, grausliche Dinge, was soll man sagen. Aber ein Boxer war er, fesch, ordinär ein bissl, aber fesch. Ein Boxer. Nach dem Krieg durfte er nicht gegen Ausländer boxen, wegen dem Krieg. Nur gegen die Deutschen, weil die durften auch nicht gegen Ausländer boxen. Nur gegen die unsrigen, nicht wahr? Wir sind ja keine Ausländer. Damals. Weil wir ja zusammen im Krieg waren, nicht? Furchtbar. Und da hat der Schurl, ihr Mann, gegen die Deutschen geboxt. Kennen Sie sich aus mit Boxen?«
    »Ich denk schon, Frau Dvorak. Ist ja nicht so kompliziert«, antwortete ich.
    »Am Anfang vom Kampf, da schlagen sich die Boxer gegenseitig kurz auf die Handschuhe, damit wollens sagen, auf einen fairen Kampf, nicht wahr? Die feine englische Art war aber nichts fürn Schurl. Der Deutsche hielt ihm die Faust zur Begrüßung hin, und der Schurl hat gleich zugeschlagen. Der Deutsche war verdutzt, und der Schurl schlug munter weiter. Das war er, der Schurl. Ordinär, aber fesch.«
    Mein Handy läutete. »Entschuldigung, Frau Dvorak.« Ich ließ sie mit ihren drei alten Hunden, die langsamere Bewegungen machten als die ausgestopften Tiere im Naturhistorischen Museum, stehen und hob im Gehen ab.
    »Spön hier. Könntest du bitte kommen? Zu mir nach Hause. Derrick lässt mich nicht raus. Bitte.«
    »Beweg dich nicht, und reiz ihn nicht. Ich bin gleich da«, sagte ich und stiefelte los.
    Bald schon überquerte ich den

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