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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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die Augen und schlief ein. Später erfuhr Rocco, dass Grasel-Babinsky seine Zelle mit einem der Untreue überführten Banker teilen musste und einem Mörder, der seine Opfer im Schlaf überraschte. Verständlicherweise hatte er in der Zelle kaum ein Auge zugetan. Im Spital des Landesgerichtlichen Gefangenenhauses konnte er sich endlich ausschlafen. Zu Rocco hatte er das notwendige Vertrauen, außerdem hing Roccos Bein in einer Schlinge. Er war festgemacht wie der kleine Mitterer am Pflock.
    Roccos Bruch heilte falsch zusammen. Er musste noch einmal operiert werden, ein zweiter Nagel wurde eingesetzt. Dr. Grasel-Babinsky redete in seinem sanften Bariton beruhigend auf ihn ein, wenn die Wunde schmerzte und die Knochen sich spürbar ärgerten über die Fremdkörper, die in ihnen steckten.
    »Soll ich Ihnen von der schlechten Entscheidung erzählen, die mich hierhergebracht hat?«
    »Gern«, stöhnte Rocco.
    »Ich war ein guter Dentaldieb, Sammler schätzten meine Zuverlässigkeit, die Museen fürchteten mich, kannten mich aber nicht. Als Arzt bin ich es gewohnt, sauber zu arbeiten, das tat ich als Dieb auch. Ich konnte gut leben von meinem Beruf, aber natürlich stellte sich irgendwann ein Gefühl der Monotonie ein. Ich kannte bald alle wichtigen Zahnmedizinisch-Historischen Museen, ich hatte ganze Behandlungszimmer aus dem 19. Jahrhundert gestohlen. Mir fehlte nach einiger Zeit die Herausforderung. Und da bekam ich eine Anfrage. Sagt Ihnen der Name Edward Scarlett etwas? Wahrscheinlich nicht.«
    »Doch, das weiß ich.« Rocco lächelte trotz seiner Schmerzen. »Ich habe in Jena Führungen gemacht im Optischen Museum. Scarlett hat die erste Brillenfassung entworfen. So um siebzehnhundertirgendwas.«
    »Siebenundzwanzig. 1727. Das ist ja ein Zufall, dass Sie sich da auskennen. Ich kannte mich nämlich nicht aus mit historischen Brillen. Ein Kunde aus Zürich wollte diese Scarlett-Brillenfassung haben. Unbedingt. Er bot mir eine astronomische Summe dafür. Ich zögerte, weil das fremdes Terrain war. Im Prinzip natürlich ähnlich – ob ich jetzt eine Brille oder einen Zahnschlüssel klaue, ist kein großer Unterschied. Aber die professionelle Herangehensweise, die Sicherheit, das Wissen, das einem die Ruhe gibt, das fehlte mir hier alles. Wissen Sie, ich sehe sehr gut, ich hatte nie Kontakt zu Sehhilfen. Trotzdem nahm ich den Job an.«
    Grasel-Babinsky machte eine Pause, als bereue er kurz, so gute Augen zu haben. Dann fuhr er fort.
    »Ich begann mit simplen Brillen ohne Bügel aus dem 13. Jahrhundert. Brillenhistorische Freaks wissen, dass es davon noch einige gibt. Die waren relativ leicht zu entwenden.«
    »Wie viele davon haben Sie gestohlen?«
    »Ich schätze, an die dreißig. Ich fand dafür schnell Abnehmer, aber eigentlich war’s nur ein Training für die Scarlett-Fassung. Der Schweizer machte Druck. Die Scarlett-Fassung war Teil einer Wanderausstellung, die monatelang in Asien gezeigt wurde und jetzt nach Österreich kam. Inzwischen kannte ich mich bereits ein bisschen besser aus auf dem Gebiet. Ich wusste, dass bei der Wanderausstellung auch die erste Kontaktlinse präsentiert wurde, die 1877 von Adolf Fick erfunden wurde.«
    »Adolf Fick?«
    »Ja, ich weiß. Er konnte nichts für seinen Namen. Viele tragen heute ein Fick-Erzeugnis in den Augen und wissen es nicht.«
    »Adolf Fick …« Rocco schüttelte den Kopf. »Was für ein Name. Wenn unser Adolf auch Fick statt Hitler geheißen hätte, wär uns vielleicht vieles erspart geblieben. Heil Fick – wer hätte so was gesagt? Außer ein paar sexbesessenen Nazis?« Rocco lachte. »Wussten Sie, dass Brillenträger bei asiatischen Frauen wesentlich mehr Erfolg haben als Leute ohne Brille? Die Brille steht in Asien für Klugheit und Bildung und deshalb auch für Geld und ein zufriedenes Leben.«
    »Aber vielleicht haben Chinesen mit Kontaktlinsen den besseren Sex«, wandte Dr. Grasel-Babinsky ein, bevor er weitererzählte. »Die Ausstellung wurde im Kunsthistorischen Museum in Wien gezeigt. Unter Kollegen gilt das Kunsthistorische als Kinderspiel. Es ist sehr leicht, dort etwas zu stehlen, glauben Sie mir. Ich bin in der Nacht über ein Gerüst ins Museum eingestiegen. Das Gerüst stand dort, weil das Natur- und das Kunsthistorische Museum einer permanenten Renovierung unterliegen. Es war wie ein Witz: Ich stieg durch ein weit geöffnetes Fenster, es hätte mich nicht gewundert, wenn dort der Museumsdirektor gestanden wäre, um mir die Scarlett-Fassung und

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