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Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)

Titel: Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Stermann
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Grasel-Babinsky, Zahnarzt aus Graz und Schüler von Professor Georg Carabelli von Lunkaszprie. »Der Erste, der die Zahnheilkunde mit wissenschaftlichen Maßstäben zu fassen suchte«, erklärte Grasel-Babinsky, nachdem er sich vorgestellt hatte.
    »Und warum sind Sie hier? Als Zahnarzt? Ein Kunstfehler?«, fragte Rocco, dem sein Mitbewohner auf Anhieb sympathisch war, wegen seines charmanten Lächelns und seiner angenehmen Stimme, mit der er das Neujahrskonzert im goldenen Saal des Wiener Musikvereins moderieren hätte können.
    »Nein. Ich sitze wegen Diebstahl ein. Ich hab nur ein paar Jahre als Zahnarzt ordiniert, dann hab ich mich ganz aufs Stehlen konzentriert. Ich hab schon als Student aus der Universitätsklinik ein historisches Glüheisen gestohlen, mit dem im 19. Jahrhundert die Pulpa ausgebrannt wurde.«
    »Warum? Wollten Sie es für Ihre eigene Praxis benutzen?«
    »Nein«, schmunzelte er. »Das hätte den Patienten nicht gefallen, glauben Sie mir. Das war wirklich schmerzhaft für unsere Vorfahren, damit könnte man heute kein Geschäft mehr machen. Nein, ich hab es verkauft. Viele Sammler sind ganz verrückt auf historische Instrumente. Und ich klaue einfach gerne. Der Kick ist nicht zu vergleichen mit einer Wurzelbehandlung. Wissen Sie, als Zahnarzt schauen Sie immer nur in angsterfüllte Augen. Als Dieb haben Sie selber Schiss, wobei ich diese Aufregung immer schon als etwas Schönes empfunden habe.«
    »Und was haben Sie so gestohlen?«, fragte Rocco, der sich als Historiker natürlich für die Geschichte des Diebs und auch die der Zahnmedizin interessierte, nachdem er die letzten Jahre auf dem Gipfel der Langeweile verbracht hatte.
    »Ich darf mit Stolz behaupten, dass ich viel gestohlen habe. Heute gibt es etwa gleich viele Ausstellungsstücke in privater Hand wie in den Museen. Dafür trage ich eine nicht geringe Verantwortung«, lachte Grasel-Babinsky. »Allein 1996 habe ich drei Gnathostat-Geräte nach Siebert zur schädelbezüglichen Orientierung von Kiefermodellen aus dem Museum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in der Währinger Straße in Wien gestohlen. Außerdem einen Symmetographen nach Beerendonk und einen nach Brückl-Rasch sowie einen nach Korkhaus-Philips. Ich hab auch Situationsmodelle aus der Korkhaus-Sammlung mit unterschiedlichen kieferorthopädischen Anomalien privaten Interessenten zuführen können. Alles Leihgaben der Charité in Berlin.« Er kicherte. »Mein schönster Coup war aber die ›Lange Nacht der Zähne‹. Das haben Sie vielleicht gelesen. Sisis erster Zahn – ich hab die Vitrine aufgebohrt wie einen Zahn und den Zahn herausgeholt. Als hätte ich ihn extrahiert. Ohne Narkose. … Wissen Sie, dieser Zahn ist etwas Besonderes. Die spätere Kaiserin Elisabeth hatte bereits bei ihrer Geburt einen Milchzahn im Mund. Jetzt hielt ich ihn in der Hand!«
    »Vom Mund in die Hand«, sagte Rocco.
    »Kann man so sagen. Ich habe zwanzig Jahre lang in ganz Europa gearbeitet. Stiftschienen, Handbohrer, Zahnmeißel und Hebel, Tretbohrmaschinen, Vulkanierkessel und Lichtbogenschmelzschleudern – alles, was meine Kunden wollten, habe ich besorgt.«
    »Warum möchte jemand eine Tretbohrmaschine haben?« Rocco zog sich am Haltegriff über seinem Bett hoch.
    »Was es gibt, das möchten Menschen haben. Und je schwieriger es ist, etwas zu besitzen, umso besser zahlen sie dafür. Für einen Zahnstocher aus dem 17. Jahrhundert habe ich 25 000 Euro bekommen. Ein Zahnstocher in Form einer Streitaxt aus Elfenbein. Ein Zahnstocher in Form eines Frauenbeins war knapp 30 000 Euro wert.«
    »Wow.« Rocco war begeistert.
    »Ich habe mich auch oft gefragt, was Laien dazu bringt, solche Summen auszugeben für altes Zahnarztwerkzeug. Ich denke, es geht um Macht. Es gibt nur wenige Momente, in denen man sich so hilflos ausgeliefert fühlt wie beim Zahnarzt. Noch dazu das ganze Bohren und Hämmern und Schaben des Arztes, alles im Kopfbereich, in der Nähe des Gehirns, gleich bei den Ohren, die jedes Geräusch verstärkt empfangen. Im Intimbereich des Mundes. Diese Macht möchten Menschen spüren, wenn sie mich beauftragen. Früher, als es noch kaum Narkosemittel gab und jede Behandlung deutlich schmerzhafter war, war der Patient noch machtloser. Oft auch bewusstloser.« Grasel-Babinsky lächelte und gähnte. »Wer altes Zahnbesteck hat, spürt die Macht der frühen Zahnärzte. Unter den Talaren die Angst von tausend Jahren. Entschuldigen Sie mich, Zeit für ein Schauferl Schlaf.«
    Er schloss

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