Sechs Österreicher unter den ersten fünf: Roman einer Entpiefkenisierung (German Edition)
die Fick-Linsen feierlich zu überreichen. Ich ging zu den Vitrinen und schnitt sie mit meinem Lasergerät auf – das kennen Sie vielleicht von einer Wurzelbehandlung …? Ich nahm die Scarlett-Fassung heraus und auch die Linsen. Aber die sind ja sehr klein, eine rutschte mir aus den Fingern. Ich bückte mich nach ihr und verspürte sofort einen Schmerz, der mir blitzartig durch den ganzen Körper schoss.«
»Die Bandscheibe«, folgerte Rocco.
»Sie sagen es. Ich lag da wie ein kranker Käfer, die verfickte Linse, entschuldigen Sie, in Griffweite, aber es war mir unmöglich, mich zu bewegen. Im Morgengrauen fand mich ein Wärter. Das war vor zwei Jahren. Bis jetzt hab ich versucht, den Rücken durch Gymnastik zu stärken, aber es hat nichts gebracht. Ich hab schon fast nichts mehr in den Zehen gespürt. Deshalb jetzt die Operation. Im Gefängnis kann ich mich gut von der OP erholen. Ich hab ja noch vier Jahre vor mir, das sollte reichen für die Reha.«
»Sie haben sechs Jahre Haft bekommen, weil Sie alte Brillengestelle geklaut haben?« Rocco war fassungslos.
»Brillen und medizinisches Gerät. Und vergessen Sie nicht Sisis Zahn. Der Milchzahn war ein eigener Anklagepunkt. Die Republik Österreich gegen mich in der Causa Milchzahn. Klauen Sie nie Körperteile von verstorbenen Kaisern und bleiben Sie bei dem, was Sie gelernt haben.«
»Und Ihr Schweizer Auftraggeber? Sitzt der auch?«
»Natürlich nicht. Ich wäre ja schön blöd, meine zukünftigen Kunden selbst aus dem Verkehr zu ziehen. Natürlich habe ich keine Namen preisgegeben. Aber gefragt habe ich mich schon ein paarmal, was dem Schweizer wohl an diesem Brillengestell liegt. Warum will man die besitzen? Ich denke, es geht wieder mal um Macht. Anderen die Brille wegzunehmen zeugt von großer Macht. Ohne Brille kann der andere nichts sehen und tapst herum wie ein betrunkener Bär, in völliger Verschwommenheit. Der Besitzer des Brillengestells ist der Dompteur, der die Rettung für den Kurzsichtigen in den Händen hält. Das gibt ihm ein Gefühl von Stärke.«
»Tss, diese Schweizer«, schnaufte Rocco und richtete sich in seinem Krankenbett auf. »Immer haben wollen.« Er hob die Stimme. »Eigentum ist Diebstahl!«
»Das stimmt. Wer wüsste das besser als ich«, feixte der Zahnarzt.
Dr. Grasel-Babinsky riet ihm, die Berge zu verlassen, weil man dort nicht viel mehr tun könne, als hinunterzuschauen. Das entfremde einen mit der Zeit vom Leben auf der Erde. Er schlug Rocco vor, nach Wien zu gehen. »Dort gibt es einen deutschen Brillen-Discounter, da arbeiten nur Deutsche. Riesenfiliale auf der Mariahilfer Straße. Die kommen alle aus dem Osten, die Verkäufer und die Optiker. Sie kennen sich mit Brillen aus, warum also nicht?«
»Herr Grasel-Babinsky, ich soll Führungen durch einen Brillen-Discounter machen? Da bleib ich lieber auf dem Berg.«
»Natürlich nicht. Das hab ich auch nicht ernst gemeint. Aber Sie sind Historiker – das wäre doch gelacht, wenn ich in einer Stadt wie Wien nichts finden würde für Sie«, sagte Grasel-Babinsky und gähnte.
Nachdem Rocco aus dem Krankenhaus entlassen worden war, humpelte er mit seinem Gehgips durch die Innsbrucker Innenstadt. Auf der Maria-Theresien-Straße fand er eine Buchhandlung mit angeschlossenem Antiquariat, das auch historische Postkarten führte: alte Kupferstiche der Hungerburg, das Bergisel-Rundgemälde, eine kolorierte Ansicht von Schloss Ambras und vieles andere. Es gab auch eine Abteilung für Motive außerhalb Tirols. Rocco schaute sich die Bilder an und stutzte. Eine vergilbte Postkarte zeigte den weltberühmten Altar der Stadtkirche von Bad Wildungen mit dem »Brillenapostel«. 1403 habe Conrad von Soest dieses Altarbild gemalt, erläuterte die Rückseite der Karte. Es sei die früheste Darstellung einer Brille nördlich der Alpen. Rocco kaufte sie und schickte sie ans Spital des Landesgerichtlichen Gefangenenhauses, orthopädische Abteilung, zu Händen von Dr. Grasel-Babinsky.
Der Zahnarzt mit den langen Fingern hielt Wort. Kurz nach seiner Ankunft in Wien erhielt Rocco das Angebot, in Schuberts Sterbehaus zu arbeiten. Sein Vorgesetzter, ein Mitarbeiter des Wien Museums, erzählte ihm, dass vor einiger Zeit die berühmte Original-Schubert-Brille am helllichten Tag aus der verschlossenen Vitrine entwendet worden sei. Am Tag darauf habe Dr. Grasel-Babinsky die Brille ins Museum gebracht. »Gefunden hat er sie und sofort gewusst, wo sie hingehört. Hier zu uns ins Schuberthaus. So ein
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