Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
an mich. Tante Marina ist kein schlechter Mensch, sie hat nur ein schlechtes Leben. Sie hatte zwei Ehemänner, und beide sind am Suff krepiert, wie sie sagt. Sie bekam oft Besuch von ihrem Neffen, wir grüßten uns. Ein hübscher Junge. Und dann … Das war so: Ich saß im Zimmer und las, da kam Tante Marina rein, nahm mich bei der Hand und ging mit mir in die Küche. »Macht euch bekannt: Das ist Julia, und das ist Shenka. Und jetzt ab mit euch beiden, geht spazieren!« Von da an traf ich mich mit Shenka. Wir küssten uns auch, aber es war nichts Ernstes. Er war Kraftfahrer und viel unterwegs. Einmal kam er zurück, und ich war nicht da. Wo ist sie? Was ist los? Das war … Ich hatte schon lange hin und wieder Anfälle gehabt – mal bekam ich keine Luft, mal kippte ich vor Schwäche um … Tante Nadja bestand darauf, dass ich zum Arzt ging, und ich wurde untersucht. Die Diagnose lautete: Multiple Sklerose. Sie wissen natürlich, was das ist … Eine unheilbare Krankheit … Sie kommt vom Kummer, bei mir kommt sie vom Kummer. Meine Mama fehlte mir sehr. Sehr. (Sie schweigt.) Nach dieser Diagnose musste ich erst mal ins Krankenhaus. Dort kam Shenka mich regelmäßig besuchen. Jeden Tag. Mal brachte er einen schönen Apfel mit, mal eine Apfelsine … Wie Papa früher … Inzwischen war schon Mai … Eines Tages kam er mit einem Rosenstrauß – meine Güte, so ein Strauß kostete seinen halben Monatslohn. Er hatte seinen besten Anzug an … »Heirate mich.« Ich stockte. »Willst du mich nicht?« Was sollte ich darauf antworten? Lügen kann ich nicht, außerdem wollte ich ihn nicht anlügen. Ich war schon lange in ihn verliebt … »Ich möchte dich gern heiraten, aber du musst die Wahrheit wissen – ich bin krank. Bald werde ich nicht mehr laufen können, dann musst du mich tragen.« Er verstand nichts, war aber traurig. Am nächsten Tag kam er wieder und sagte: »Das macht nichts. Wir schaffen das.« Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus haben wir geheiratet. Er brachte mich zu seiner Mutter. Seine Mutter ist eine einfache Bäuerin. Sie hat ihr ganzes Leben auf dem Feld gearbeitet. Kein einziges Buch im Haus. Aber ich fühlte mich wohl bei ihnen. Geborgen. Ich erzählte es auch ihr … »Das macht nichts, mein Kind.« Sie umarmte mich. »Wo Liebe ist, da ist auch Gott.« (Sie schweigt.)
Jetzt will ich mit aller Macht leben, weil ich jetzt Shenka habe … Ich träume sogar von einem Kind … Die Ärzte sind dagegen, aber ich träume davon … Ich wünsche mir ein richtiges Zuhause. Ich habe erfahren, dass vor kurzem ein Gesetz herausgekommen ist … Nach diesem Gesetz könnte ich unsere Wohnung zurückbekommen. Ich habe einen Antrag gestellt … Man hat mir gesagt, solche wie mich gebe es Tausende, vielen werde geholfen, aber mein Fall sei sehr kompliziert, unsere Wohnung sei schon dreimal weiterverkauft worden. Die Banditen, die uns ausgeplündert haben, liegen längst auf dem Friedhof, sie haben sich gegenseitig erschossen …
Neulich waren wir bei meiner Mutter auf dem Friedhof. Auf dem Grabstein ist ein Foto von ihr, sie sieht aus wie lebendig. Wir haben alles aufgeräumt und gesäubert. Wir standen lange da, ich konnte nicht weggehen, und einen Moment lang schien es mir, als würde sie lächeln … Als wäre sie glücklich … Aber vielleicht kam das auch nur von der Sonne …
VOM WUNSCH, SIE ALLE ZU TÖTEN,
UND DEM ENTSETZEN DARÜBER,
DAS GEWOLLT ZU HABEN
Xenija Solotowa, Studentin, 22 Jahre
Zu unserem ersten Treffen kam ihre Mutter. Sie gestand: »Xjuscha wollte nicht mitkommen. Sie wollte auch mich abhalten. ›Mama, wen interessieren wir schon? Sie wollen nur unsere Gefühle, unsere Worte, wir selbst interessieren sie nicht, denn sie haben das nicht erlebt. ‹ « Sie war sehr erregt, stand immer wieder auf und wollte gehen: »Ich versuche, nicht daran zu denken. Es tut weh, das noch einmal durchzumachen.« Dann erzählte sie wieder, es brach aus ihr heraus, aber meist schwieg sie. Wie konnte ich sie trösten? Einerseits bitte ich sie: »Regen Sie sich nicht auf. Beruhigen Sie sich«, andererseits will ich, dass sie sich an diesen schrecklichen Tag erinnert: den 6. Februar 2004 – den Terroranschlag in der Moskauer Metro zwischen den Stationen Awtosawodskaja und Pawelezkaja auf der Samoskworezkaja-Linie. Durch die Explosion wurden 39 Menschen getötet, 122 kamen verletzt ins Krankenhaus.
Immer wieder durchmesse ich die Kreise des Schmerzes. Ich komme nicht heraus. Im Schmerz ist
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