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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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… ihr Gesicht … Wofür? Etwas Zähes, Klebriges hüllt mich ein, mein Bewusstsein zerspringt in kleine Splitter. Meine Beine wollen sich nicht bewegen, sie sind wie aus Watte, ich werde aus dem Zimmer geführt. Der Arzt schimpft mit mir: »Nehmen Sie sich zusammen, sonst lassen wir Sie nicht mehr zu ihr.« Ich »nehme mich zusammen« … Gehe zurück ins Zimmer. Sie sieht mich nicht an, sondern an mir vorbei, als würde sie mich nicht erkennen. Der Blick eines leidenden Tieres, er ist nicht auszuhalten. Damit kann man nicht weiterleben. Jetzt versteckt sie diesen Blick, sie hat sich in einen Panzer gehüllt, aber das alles ist in ihr. Es hat sich tief in sie eingeprägt. Sie ist die ganze Zeit dort, wo wir nicht waren …
    Die ganze Station war voll mit solchen Mädchen … wie sie im Waggon gesessen hatten, so lagen sie nun dort … Viele Studentinnen, Schülerinnen. Ich dachte, alle Mütter würden auf die Straße gehen. Alle Mütter mit ihren Kindern. Wir würden Tausende sein. Jetzt weiß ich, dass nur ich mich für mein Mädchen interessiere, nur wir bei uns zu Hause. Die Leute hören zu … äußern Mitgefühl … aber ohne Schmerz! Ohne Schmerz!
    Dann wurde sie aus dem Krankenhaus entlassen und lag nur da, ohne jedes Gefühl. Daschenka war immer an meiner Seite, sie hatte Urlaub genommen. Sie streichelte mir den Kopf wie einem Kleinkind. Der Vater hat nicht geschrien, nicht getobt – und bekam einen Herzinfarkt. Wir waren plötzlich in der Hölle … Und wieder – wofür? Ich habe meinen Kindern immer erzählt, dass das Gute stärker sei als das Böse, dass das Gute immer siege, und hab ihnen Bücher in die Hand gedrückt, in denen das so steht. Aber das Leben ist anders als in den Büchern. Das Gebet einer Mutter holt dich vom Meeresboden herauf? Das ist nicht wahr! Ich bin eine Verräterin, ich konnte sie nicht beschützen wie früher, als sie noch Kinder waren, dabei hatten sie auf mich gehofft. Wenn meine Liebe sie beschützen könnte, wären sie gefeit gegen jedes Unglück, gegen jede Enttäuschung.
    Eine Operation … eine zweite … Drei Operationen! Dann konnte Xjuscha auf einem Ohr wieder hören … konnte die Finger bewegen … Wir lebten an der Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen dem Glauben an ein Wunder und der unfassbaren Ungerechtigkeit, und obwohl ich Krankenschwester bin, begriff ich, dass ich äußerst wenig über den Tod weiß. Ich habe ihn schon viele Male gesehen, aus nächster Nähe. Einen Tropf anlegen, den Puls fühlen … Alle denken, Mediziner wüssten über den Tod mehr als andere Menschen – nein, keineswegs. Ein Pathologe bei uns, er stand schon kurz vor der Rente, fragte mich einmal: »Was ist das – der Tod?« (Sie schweigt.) Das Leben davor war plötzlich ein weißer Fleck … Ich erinnerte mich nur noch an Xjuscha … An viele Einzelheiten – wie süß und mutig sie als kleines Mädchen war, dass sie keine Angst vor großen Hunden hatte und sich wünschte, dass immer Sommer wäre. Wie ihre Augen leuchteten, als sie nach Hause kam und uns sagte, dass sie die Aufnahmeprüfungen für das Medizinische Institut bestanden habe. Ohne Schmiergeld, ohne Nachhilfelehrer. Das konnten wir uns nämlich nicht leisten, so viel Geld hatte unsere Familie nicht. Wie sie ein, zwei Tage vor dem Terroranschlag aus einer alten Zeitung vorlas: Wenn Sie in der Metro in eine Notsituation geraten, tun Sie dies und das … Was genau, habe ich vergessen, jedenfalls so eine Art Verhaltensregeln. Und als das Ganze geschah, hat sich Xjuscha, solange sie noch bei Bewusstsein war, diesen Artikel in Erinnerung gerufen. An jenem Morgen, das war so … Sie hatte schon ihren Mantel an und wollte die Stiefel anziehen, die sie gerade erst von der Reparatur abgeholt hatte, kam aber nicht hinein … »Mama, kann ich deine Stiefel anziehen?« »Ja, klar.« Wir haben die gleiche Größe. Mein Mutterherz hat mich nicht gewarnt … Ich hätte sie doch aufhalten können … Davor hatte ich von großen Sternen geträumt, von einem Sternbild. Ich war kein bisschen besorgt … Das ist meine Schuld, diese Schuld bedrückt mich …
    Hätte man mir erlaubt, im Krankenhaus zu übernachten, wäre ich dort die Mama für alle gewesen. Irgendwer steht auf der Treppe und weint … Jemand braucht eine Umarmung, ein anderer jemanden, der bei ihm sitzt. Ein Mädchen aus Perm weinte – ihre Mutter war weit weg. Einer anderen hatte es das Bein zerquetscht … Ein Bein, das ist doch das Kostbarste! Am kostbarsten ist das Bein

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