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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Taschen … kamen wir ins Paradies … In ein Museum! Bilder an den Wänden, eine tolle Bibliothek, eine bauchige alte Kommode … Eine hohe Standuhr mit Pendel … Wir waren wie erstarrt! »Na los, Mädels, legt ab!« Wir setzten uns an den Tisch und tranken Tee. Onkel Vitja erzählte von sich … Früher sei er Juwelier gewesen, mit eigener Werkstatt. Er zeigte uns einen Koffer mit Werkzeug, Säckchen mit Halbedelsteinen, silberne Rohlinge … Alles sehr schön, interessant, wertvoll. Wir konnten nicht glauben, dass wir dort wohnen sollten. Ein Wunder …
    Wir waren wie eine richtige Familie. Ich ging wieder zur Schule. Onkel Vitja war sehr nett, er machte für mich einen Ring mit einem kleinen Stein. Aber leider … leider trank auch er … Und er rauchte wie ein Schlot. Erst schimpfte meine Mutter mit ihm, aber bald tranken sie zusammen. Sie schafften Bücher ins Antiquariat, ich erinnere mich noch an den Geruch der alten Ledereinbände … Onkel Vitja besaß auch seltene Münzen … Sie tranken und sahen fern. Politische Sendungen. Onkel Vitja philosophierte. Mit mir redete er wie mit einer Erwachsenen … Er fragte: »Juletschka, was lernt ihr denn jetzt in der Schule, nach dem Kommunismus? Was soll man jetzt mit der sowjetischen Literatur machen und mit der sowjetischen Geschichte – sie vergessen?« Allerdings verstand ich nur wenig … Interessiert Sie das? Also … Ich dachte, das wäre schon weit weg, aber nun … fällt es mir wieder ein …
     
    »… Der Russe muss schlecht und elend leben, dann erhebt sich die Seele, dann erkennt sie, dass sie nicht dieser Welt gehört … Je schmutziger und blutiger, desto mehr Raum für die Seele …«
     
    »… Modernisierung geht bei uns nur mit Knüppel und Erschießungen …«
     
    »… Die Kommunisten … Was können die schon? Wieder Lebensmittelkarten einführen und die Baracken in Magadan wieder in Betrieb nehmen …«
     
    »… Normale Menschen wirken heute wie Verrückte … Dieses neue Leben wirft Menschen wie mich und deine Mutter auf den Müll …«
     
    »… Im Westen ist der Kapitalismus alt, aber bei uns ist er noch ganz frisch, bei uns hat er junge Reißzähne … Aber die Macht, die ist noch ganz und gar byzantinisch …«
     
    Eines Nachts bekam Onkel Vitja Herzbeschwerden. Wir riefen den Notarzt. Onkel Vitja starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Herzinfarkt. Seine Verwandten kamen. »Wer seid ihr denn? Wo kommt ihr her? Ihr habt hier nichts zu suchen.« Ein Mann schrie: »Raus mit euch Bettlerinnen! Verschwindet!« Bevor wir gingen, durchsuchte er unsere Taschen …
    Wir waren wieder auf der Straße …
    Wir riefen Mutters Cousin an … Seine Frau nahm ab. »Kommt her.« Sie wohnten in einem Chruschtschow-Bau in der Nähe vom Flusshafen in einer Zweizimmerwohnung, zusammen mit ihrem verheirateten Sohn. Die Schwiegertochter war schwanger. Sie entschieden: »Ihr könnt bei uns wohnen, bis Aljona entbunden hat.« Mama schlief auf einem Klappbett im Flur, ich auf einem alten Sofa in der Küche. Zu Onkel Ljoscha kamen oft Freunde … aus seinem Betrieb … Ich schlief bei ihren Gesprächen ein. Alles wiederholte sich: eine Flasche Wodka auf dem Tisch, Karten. Allerdings waren die Gespräche hier andere.
     
    »… Alles haben sie verkackt … Freiheit … Scheiße, wo ist denn diese Freiheit? Wir fressen Graupen ohne Butter …«
     
    »… Die Jidden … die haben den Zaren umgebracht und Stalin und Andropow … Haben diese Liberastie verbreitet … Man muss die Schrauben anziehen … Wir Russen müssen uns an den Glauben halten …«
     
    »… Jelzin kriecht vor Amerika auf dem Bauch … Wir haben immerhin den Krieg gewonnen …«
     
    »… Wenn du in die Kirche gehst – da bekreuzigen sich zwar alle, aber sie stehen da wie aus Stein …«
     
    »… Bald wird’s hier heiß und lustig … Die Liberalisten hängen wir als Erste an den Laternenpfählen auf, für das, was sie uns in den Neunzigern angetan haben … Wir müssen Russland retten …«
     
    Nach ein paar Monaten kam das Baby der Schwiegertochter zur Welt. Für uns war kein Platz mehr.
    Wir standen wieder auf der Straße …
    … Bahnhof
    … Treppenhaus
    … Bahnhof
    … Treppenhaus …
     
    Auf dem Bahnhof … Die diensthabenden Milizionäre, alte wie junge, waren alle gleich: Entweder marsch raus auf die Straße, und das im Winter, oder ab zu ihnen in die Kammer … Sie hatten da hinter einem Wandschirm eine spezielle Ecke … ein Sofa … Meine Mutter ist mal auf einen Milizionär

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