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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Wodka gefüllt statt Tee, in Koffern lagen unter Wäsche versteckt Nägel und Schlösser … Nach Hause kam Olja mit einer Tasche voller guter polnischer Wurst. Die roch wunderbar!
    In Moskau hörte man nachts Schüsse und sogar Explosionen. Überall waren Verkaufsstände … überall … Meine Mutter fand Arbeit bei einem Aserbaidschaner, er hatte zwei Stände, an einem gab es Obst, am anderen Fisch. »Viel Arbeit, keine freien Tage. Kein Ausruhen.« Aber dann stellte sich heraus: Verkäuferin zu sein war Mutter peinlich, sie schämte sich. Sie konnte es einfach nicht! Am ersten Tag packte sie das Obst auf den Ladentisch, dann versteckte sie sich hinter einem Baum und schaute von dort auf den Stand. Sie zog ihre Mütze ganz tief herunter, damit sie niemand erkannte. Am nächsten Tag schenkte sie einem kleinen Zigeunerjungen eine Pflaume … Der Besitzer hat das gesehen und sie angeschrien. Geld duldet keine Scham und kein Mitleid … Mutter blieb nicht lange dort, Verkaufen war nichts für sie … An einem Zaun entdeckte ich eine Annonce: »Putzfrau mit Hochschulbildung gesucht.« Mutter ging hin und wurde eingestellt. Die Bezahlung war anständig. Es war eine amerikanische Stiftung … Nun konnten wir einigermaßen für uns selbst sorgen, wir mieteten ein Zimmer, in einem anderen Zimmer der Dreizimmerwohnung lebten Aserbaidschaner. Junge Kerle. Sie kauften und verkauften dauernd irgendwas. Einer wollte mich heiraten und mit mir in die Türkei gehen. »Ich entführe dich. Das ist bei uns Sitte, seine Braut muss man entführen.« Ich hatte Angst, ohne meine Mutter zu Hause zu bleiben. Er schenkte mir frisches Obst und getrocknete Aprikosen … Der Wohnungseigentümer trank wochenlang, er betrank sich so, dass er total durchdrehte. »Ach, du Nutte! He du, Schlampe!« Er verprügelte seine Frau, trat sie mit Füßen … sie wurde oft mit dem Krankenwagen weggebracht … Dann wollte er nachts zu meiner Mutter. Er versuchte, unsere Zimmertür aufzubrechen …
    Bald standen wir wieder auf der Straße …
    Auf der Straße und ohne Geld … Die Stiftung hatte dichtgemacht, Mutter schlug sich nun mit Zufallsverdiensten durch. Wir lebten in Hausfluren … in Treppenhäusern … Manche Leute gingen einfach vorbei, andere schrien uns an, manche jagten uns auch hinaus. Sogar nachts. Bei Regen und Schnee. Niemand bot uns Hilfe an, niemand stellte uns Fragen … (Sie schweigt.) Die Menschen sind weder gut noch schlecht. Jeder hat seins … (Sie schweigt.) Morgens gingen wir zu Fuß zum Bahnhof, für die Metro hatten wir kein Geld, und dort auf der Toilette wuschen wir uns. Und unsere Wäsche. Das war unser Waschhaus … auf dem Bahnhof … Im Sommer ist es nicht so schlimm, wenn es warm ist, kann man überall leben … Wir übernachteten auf Parkbänken, im Herbst scharrten wir Laub zusammen und schliefen darauf – das war warm. Wie in einem Schlafsack. Auf dem Weißrussischen Bahnhof … daran erinnere ich mich gut … da trafen wir oft eine uralte Frau, sie saß neben der Kasse und redete mit sich selbst. Sie erzählte immer dieselbe Geschichte: Wie im Krieg oft Wölfe in ihr Dorf kamen, weil sie spürten, dass keine Männer da waren. Die Männer waren alle an der Front. Wenn Mama und ich ein wenig Geld hatten, gaben wir ihr immer etwas. Sie schlug das Kreuz über uns. »Gott schütze euch.« Dann musste ich an meine Großmutter denken …
    Einmal hatte ich Mama allein auf einer Bank zurückgelassen. Als ich wiederkam, saß ein Mann neben ihr. Ein sympathischer Typ. »Macht euch bekannt«, sagte meine Mutter, »das ist Vitja. Er mag auch Brodsky.« Alles klar. Das kannte ich schon … Wenn jemand Brodsky mochte, war das für meine Mutter wie eine Parole, das hieß, er war unseresgleichen. »Was, er hat Die Kinder vom Arbat 5 nicht gelesen?« Ein ungebildeter Mensch! Ein Hinterwäldler! Ein Fremder, nicht unseresgleichen. So teilte sie die Menschen immer ein, das hatte sie beibehalten. Ich dagegen hatte mich in den zwei Jahren, seit wir auf der Straße lebten, sehr verändert, ich war ernst geworden, vielleicht zu ernst für mein Alter. Ich hatte begriffen: Meine Mutter konnte mir nicht helfen, im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, ich müsste mich um sie kümmern. Ja, das Gefühl hatte ich … Onkel Vitja war klug, und er fragte nicht meine Mutter, sondern mich: »Na, Mädels, kommt ihr mit?« Er nahm uns mit zu sich, er hatte eine Zweizimmerwohnung. Unsere Habe trugen wir bei uns, und mit diesen unseren schäbigen karierten

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