Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
deines eigenen Kindes! Wer will mir das vorwerfen?
In den ersten Tagen nach dem Anschlag wurde in den Zeitungen viel darüber geschrieben, im Fernsehen lief eine Reportage. Als Xjuscha in einer Zeitung ihr Foto entdeckte, warf sie die Zeitung weg …
Die Tochter
… ich erinnere mich an vieles nicht … Ich behalte es nicht im Gedächtnis! Ich will es nicht! (Die Mutter umarmt sie. Beruhigt sie.)
… unter der Erde ist alles schlimmer. Jetzt habe ich immer eine Taschenlampe in meiner Handtasche …
… man hörte kein Weinen, keine Schreie. Es war still. Alle lagen auf einem Haufen … nein, ich hatte keine Angst … Dann begannen wir uns zu regen. Irgendwann wurde mir klar, dass wir da wegmussten, da war doch alles aus Kunststoff, und es brannte. Ich habe noch meinen Rucksack gesucht, wo meine Vorlesungsmitschriften drin waren, mein Portemonnaie … Der Schock … ich stand unter Schock … Schmerzen habe ich nicht gespürt …
… eine Frauenstimme rief: »Serjosha! Serjosha!« Serjosha antwortete nicht … Mehrere Menschen saßen in unnatürlichen Haltungen noch im Waggon. Ein Mann hing über einem Träger wie ein Wurm. Ich wagte nicht, in seine Richtung zu schauen …
… ich lief, und mir war schwindlig … Überall wurde gerufen: »Hilfe! Hilfe!« Vor mir lief jemand wie ein Schlafwandler, mal langsam vorwärts, dann wieder zurück. Wir beide wurden von allen überholt.
… oben kamen zwei Mädchen auf mich zugelaufen und drückten mir eine Art Lappen auf die Stirn. Mir war schrecklich kalt. Sie gaben mir einen kleinen Stuhl, und ich setzte mich hin. Ich sah, dass sie Fahrgäste um Gürtel und Krawatten baten und damit Wunden abbanden. Die Diensthabende der Station schrie ins Telefon: »Was wollen Sie? Die Leute kommen aus dem Tunnel und sterben, sie klettern auf den Bahnsteig hoch und sterben …« (Sie schweigt.) Warum quälen Sie uns? Mama tut mir leid. (Sie schweigt.) Alle haben sich schon daran gewöhnt. Sie schalten den Fernseher ein, hören eine Weile zu, und dann gehen sie Kaffee trinken …
Die Mutter
Ich bin in tiefsten Sowjetzeiten aufgewachsen. In der durch und durch sowjetischen Zeit. Ich stamme aus der UdSSR . Aber das neue Russland … ich verstehe es noch nicht. Ich kann nicht sagen, was schlechter ist – das, was wir jetzt haben, oder die Geschichte der KPdSU ? In meinem Kopf sitzt das sowjetische Weltbild, dieses Muster, ich habe mein halbes Leben im Sozialismus verbracht. Das steckt tief in mir drin. Das kriege ich nicht raus. Ob ich es überhaupt je rauskriegen werde? Damals war unser Leben schlecht, aber jetzt ist es voller Angst. Wenn wir morgens auseinandergehen, wir zur Arbeit, die Mädchen in die Uni, rufen wir uns den ganzen Tag über andauernd gegenseitig an: »Wie sieht es aus bei dir? Wann fährst du nach Hause? Womit?« Erst wenn wir alle wieder zu Hause sind, bin ich erleichtert oder kann zumindest durchatmen. Ich habe vor allem und jedem Angst. Ich zittere. Die Mädchen schimpfen mit mir: Mama, du übertreibst immer … Ich bin ganz normal, aber ich brauche diesen Schutz, diese Hülle – mein Zuhause. Ich habe früh meinen Vater verloren, vielleicht bin ich deshalb so verletzlich, zumal mein Vater mich sehr geliebt hat. (Sie schweigt.) Unser Vater war im Krieg, zweimal saß er in einem brennenden Panzer … Er hat den ganzen Krieg mitgemacht – und überlebt. Dann kam er nach Hause – und wurde getötet. Im Hauseingang.
Ich wurde mit sowjetischen Büchern erzogen, wir haben ganz andere Dinge gelernt. Nur zum Vergleich für Sie … In diesen Büchern hieß es über die ersten russischen Terroristen, sie seien Helden. Märtyrer. Sofja Perowskaja 1 , Kibaltschitsch 2 … Sie seien für das Volk gestorben, für eine heilige Sache. Sie haben eine Bombe auf den Zaren geworfen. Diese jungen Leute stammten häufig aus dem Adel, aus guter Familie … Warum wundern wir uns, dass es solche Menschen heute gibt? (Sie schweigt.) Im Geschichtsunterricht, als wir den Großen Vaterländischen Krieg behandelten, erzählte uns der Lehrer von der Heldentat der weißrussischen Partisanin Jelena Masanik, die den Gauleiter von Weißrussland Kube getötet hat; sie hat unter dem Bett, in dem er mit seiner schwangeren Frau schlief, eine Bombe angebracht. Und im Nebenzimmer lagen ihre kleinen Kinder … Stalin persönlich hat ihr den Heldenstern verliehen. Bis zu ihrem Tod ging sie in Schulen und erzählte im Wehrerziehungsunterricht von ihrer Heldentat. Weder der Lehrer noch …
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