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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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losgegangen, als er mich dahin zerrte … Sie wurde verprügelt und für ein paar Tage eingesperrt … (Sie schweigt.) Ich … das kam … Ich war stark erkältet. Wir überlegten und überlegten … es ging mir immer schlechter … Wir entschieden, dass ich zu Verwandten fahren sollte, während Mama auf dem Bahnhof blieb. Nach ein paar Tagen rief sie mich an: »Wir müssen uns treffen.« Ich fuhr hin, und sie sagte: »Ich habe hier eine Frau kennengelernt, sie sagt, ich kann bei ihr wohnen. Sie hat genug Platz. Sie hat ein Haus. In Alabino.« »Ich komme mit.« »Nein, du musst erst gesund werden. Dann kannst du nachkommen.« Ich brachte sie zum Zug, sie setzte sich ans Fenster und schaute mich an, als hätte sie mich lange nicht gesehen. Ich hielt es nicht aus und sprang in den Wagen. »Was hast du?« »Mach dir keine Sorgen.« Sie winkte mir und fuhr ab. Am Abend bekam ich einen Anruf: »Sind Sie Julia Borissowna Malikowa?« »Ja.« »Hier ist die Miliz. Sie sind mit Ljudmila Malikowa verwandt?« »Das ist meine Mutter.« »Ihre Mutter wurde von einem Zug überfahren. In Alabino …«
    Sie hat immer aufgepasst, wenn ein Zug kam … sie hatte große Angst … Unter einen Zug zu kommen, davor hatte sie am meisten Angst. Sie hat hundertmal nach links und nach rechts geschaut, ob auch kein Zug kommt. Und nun … Nein, das war kein Zufall … kein Unfall … Sie hat sich eine Flasche Wodka gekauft und sie ausgetrunken, gegen die Angst und gegen die Schmerzen, und sich vor den Zug geworfen … Sie war erschöpft … einfach erschöpft … Erschöpft von diesem Leben … »von sich selbst …« Das sind ihre Worte. Hinterher ist mir alles eingefallen, was sie gesagt hat … (Sie weint.) Der Zug hat sie lange mitgeschleift … Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, hat noch eine Stunde auf der Intensivstation gelegen, konnte aber nicht mehr gerettet werden. So hat man es mir gesagt … Ich sah sie erst wieder, als sie angezogen im Sarg lag. Das war alles sehr schlimm … damals hatte ich Shenka noch nicht … Wäre ich noch klein gewesen, hätte sie mich nicht verlassen. Niemals … dann wäre das nicht passiert … In den letzten Tagen hatte sie oft zu mir gesagt: »Du bist schon groß. Du bist schon fast erwachsen.« Warum war ich erwachsen geworden? (Sie weint.) Ich war allein … So lebte ich nun … (Sie schweigt lange.) Wenn ich mal ein Kind habe, muss ich glücklich sein … damit es eine glückliche Mama in Erinnerung behält …
    Shenka … Shenka hat mich gerettet … Ich habe immer auf ihn gewartet … Im Heim träumten wir: Noch leben wir hier, aber das ist nur vorübergehend, bald werden wir so leben wie alle, wir werden richtige Familien haben, mit Mann und Kindern. Wir werden uns Kuchen kaufen, nicht an Feiertagen, sondern wann wir wollen. Das wünschten wir uns so sehr … Dann wurde ich siebzehn … siebzehn Jahre … Der Direktor rief mich zu sich: »Wir kriegen für dich kein Geld mehr vom Staat.« Und schwieg. Mit siebzehn wurde ich aus dem Heim ins Leben geschickt. Geh! Aber wohin? Ich hatte keine Arbeit, ich hatte nichts. Auch keine Mutter mehr … Ich rief Tante Nadja an. »Wahrscheinlich werde ich zu Ihnen kommen. Sie werfen mich aus dem Heim raus.« Tante Nadja … wenn sie nicht gewesen wäre … mein Schutzengel … Sie war nicht meine richtige Tante, erst jetzt ist sie mir näher als alle Verwandten, und auch ihr Zimmer in der Gemeinschaftswohnung hat sie mir vererbt. Jetzt … ja … Sie hatte mal mit meinem Onkel zusammengelebt, doch der war schon lange tot, und sie waren nicht verheiratet gewesen, nicht offiziell. Aber ich wusste, dass sie in Liebe zusammengelebt hatten. Zu einem solchen Menschen kann man gehen … Wer die Liebe kennengelernt hat, zu dem kann man immer gehen …
    Tante Nadja hatte nie Kinder gehabt, sie war ans Alleinleben gewöhnt, wieder mit jemandem zusammenzuleben fiel ihr schwer. Schrecklich! Ihr Zimmer hatte sechzehn Quadratmeter. Ich schlief auf einem Klappbett. Die Nachbarin meckerte natürlich bald. »Sie soll verschwinden.« Sie rief sogar die Miliz. Aber Tante Nadja stellte sich vor mich. »Wo soll sie denn hin?« Etwa nach einem Jahr … da fing Tante Nadja selber an: »Du hast gesagt, du kommst für zwei Monate, aber jetzt wohnst du schon ein Jahr bei mir.« Ich schwieg … und weinte … Auch sie schwieg … und weinte … (Sie schweigt.) Es verging noch ein Jahr … Irgendwie gewöhnten sich alle an mich … Ich gab mir Mühe … Auch die Nachbarin gewöhnte sich

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