Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
alles enthalten – Finsternis und Triumph, manchmal glaube ich, dass der Schmerz eine Brücke zwischen den Menschen ist, eine verborgene Verbindung, dann wieder verzweifle ich und denke: Es ist ein Abgrund.
Von dieser zweistündigen Begegnung zeugen nur ein paar Absätze in meinen Notizen:
Opfer zu sein, das ist so demütigend … Einfach beschämend. Ich möchte überhaupt mit niemandem darüber reden, ich will sein wie alle, aber es geht nicht – ich bin immer allein. Überall kann ich plötzlich in Tränen ausbrechen. Es kommt vor, dass ich durch die Stadt laufe und weine. Ein unbekannter Mann hat einmal zu mir gesagt: »Warum weinst du? Du bist so schön und weinst.« Erstens hat die Schönheit mir im Leben noch nie genützt, und zweitens empfinde ich diese Schönheit als Verrat, sie entspricht ganz und gar nicht meinem Inneren …
Wir haben zwei Töchter – Xjuscha und Dascha. Wir haben immer bescheiden gelebt, sind aber oft in Museen und ins Theater gegangen und haben viel gelesen. Als die Mädchen noch klein waren, hat sich ihr Papa Märchen für sie ausgedacht. Wir wollten sie vor dem rauen Leben beschützen. Ich dachte, die Kunst würde sie beschützen … Aber sie hat sie nicht beschützt …
In unserem Haus wohnt eine alleinstehende alte Frau, die geht in die Kirche. Einmal hielt sie mich an, ich dachte, sie wollte mir ihr Mitgefühl ausdrücken, aber sie sagte böse: »Denken Sie mal darüber nach, warum Ihnen das widerfahren ist. Ihren Kindern.« Warum … wieso hat sie das zu mir gesagt? Sie hat es dann bestimmt bereut, denke ich, hinterher hat sie es bestimmt bereut … Ich habe nie jemanden betrogen, nie jemanden verraten. Ich hatte nur zwei Abtreibungen, das sind meine beiden Sünden … (Sie schweigt.) Auf der Straße gebe ich oft Bettlern etwas, wenn auch wenig, so viel ich eben kann. Im Winter füttere ich die Vögel …«
Beim nächsten Mal kamen sie zu zweit – Mutter und Tochter.
Die Mutter
Vielleicht sind sie ja für irgendwen Helden? Sie haben eine Idee, sie sind glücklich, wenn sie sterben, sie denken, sie kommen ins Paradies. Sie haben keine Angst vor dem Tod. Ich weiß nichts über sie: »Ein Phantombild des mutmaßlichen Terroristen …«, das ist alles. Für sie sind wir Zielscheiben, keiner hat ihnen erklärt, dass meine Tochter keine Zielscheibe ist, dass sie eine Mutter hat, die ohne sie nicht leben kann, und einen Jungen, der in sie verliebt ist. Wie kann man einen Menschen töten, der geliebt wird? Ich finde, das ist ein doppeltes Verbrechen. Geht in den Krieg, in die Berge, schießt dort aufeinander, aber warum schießt ihr auf mich? Auf meine Tochter? Wir werden mitten im friedlichen Leben getötet … (Sie schweigt.) Ich habe jetzt Angst vor mir selbst, vor meinen Gedanken. Manchmal möchte ich sie alle töten, und dann bin ich entsetzt, dass ich das wollte.
Früher einmal liebte ich die Moskauer Metro. Die schönste Metro der Welt! Ein richtiges Museum! (Sie schweigt.) Nach dem Anschlag … Ich habe gesehen, dass Menschen sich bei den Händen nahmen, wenn sie zur Metro hinunterstiegen. Die Angst ließ lange nicht nach … Wir hatten Angst, in die Stadt zu gehen, bei mir stieg sofort der Blutdruck an. In der Metro hielten wir Ausschau nach verdächtigen Fahrgästen. Auf der Arbeitsstelle sprachen wir über nichts anderes. Was ist nur mit uns los, mein Gott? Ich stehe auf dem Bahnsteig, neben mir eine junge Frau mit einem Kinderwagen, sie hat schwarze Haare und schwarze Augen – keine Russin. Ich weiß nicht, was sie ist – Tschetschenin, Ossetin? Was? Ich habe es nicht ausgehalten und in den Kinderwagen geschaut: Liegt da wirklich ein Kind drin? Oder vielleicht etwas anderes? Ich war verunsichert, weil ich mit ihr im selben Wagen fahren sollte. Nein, dachte ich, soll sie erst wegfahren, ich warte auf den nächsten Zug. Ein Mann trat zu mir: »Warum haben Sie in den Kinderwagen geschaut?« Ich sagte ihm die Wahrheit. »Sie also auch.«
… Ich sehe sie da liegen, ganz zusammengerollt, mein unglückliches Mädchen. Meine Xjuscha. Warum ist sie hier allein? Ohne uns? Nein, das ist unmöglich, das kann nicht wahr sein. Auf dem Kissen ist Blut … »Xjuscha! Xjuschenka!« Sie hört mich nicht. Sie hat sich eine Mütze über den Kopf gezogen, damit ich nichts sehe, nicht erschrecke. Mein kleines Mädchen! Sie hat davon geträumt, Kinderärztin zu werden, und nun kann sie nichts mehr hören … Sie war das schönste Mädchen in ihrer Klasse … Und jetzt
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