Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
spirituell, wir sind ja so besonders!«
»Wir hatten keine Demokratie. Was sind wir schon für Demokraten?«
»Das letzte große Ereignis in meinem Leben war die Perestroika.«
»Russland kann nur groß sein oder gar nicht. Wir brauchen eine starke Armee.«
»Scheiße, wozu brauche ich ein großes Land? Ich möchte lieber in einem kleinen Land wie Dänemark leben. Ohne Atomwaffen, ohne Öl und Gas. Damit mir keiner eins mit dem Revolver über den Kopf zieht. Oder mit einem Spaten. Vielleicht lernen wir dann auch, die Bürgersteige mit Seifenlauge zu scheuern.«
»Der Kommunismus ist eine Aufgabe, die der Mensch nicht bewältigen kann … Bei uns ist es immer das Gleiche: Uns verlangt es immer nach irgendwas – vielleicht nach einer Verfassung, vielleicht auch nach Stör mit Meerrettich.« 9
»Wie ich die Menschen beneide, die eine Idee hatten – heute leben wir ohne jede Idee. Ich wünsche mir ein großes Russland! Ich erinnere mich nicht mehr daran, aber ich weiß, dass es einmal groß war.«
»Ein großes Land mit Schlangen nach Toilettenpapier. Ich erinnere mich noch genau, wie die sowjetischen Kantinen rochen und die sowjetischen Geschäfte.«
»Russland wird die Welt retten! Dann rettet es auch sich selbst!«
»Mein Vater ist neunzig Jahre alt geworden. Er hat immer gesagt, das einzig Gute in seinem Leben sei der Krieg gewesen. Er ist bis Warschau gekommen. In irgendeinem Dorf hat eine alte Polin zu ihm gesagt: ›Du riechst schlecht. Komm, ich wasch dir deine Sachen.‹ Sie hat geweint und gesagt: ›Ihr seid so schrecklich dünn. Ihr riecht schlecht. Ihr habt alle Husten. Wie konntet ihr siegen?‹«
»Gott ist das Unendliche in uns … Wir sind nach seinem Bild geschaffen.«
Von allem …
»Ich bin zu neunzig Prozent sowjetisch … Ich verstand nicht, was da passierte. Ich erinnere mich, wie Gaidar im Fernsehen sprach und sagte: Lernt, Handel zu treiben. Man kauft in einer Straße eine Flasche Mineralwasser und verkauft sie in der nächsten wieder – das ist ein Geschäft. Die Leute hörten ihm befremdet zu. Ich kam nach Hause, schloss die Tür und weinte. Meine Mutter bekam einen Schlaganfall, so sehr hat sie das alles aufgeregt. Vielleicht haben sie etwas Gutes gewollt, aber sie hatten kein Mitgefühl mit dem eigenen Volk. Nie werde ich die alten Menschen vergessen, die reihenweise am Straßenrand standen. Verwaschene Wollmützen, geflickte Jacketts … Von der Arbeit rannte ich förmlich nach Hause, ich wagte kaum aufzusehen … Ich arbeitete in einer Kosmetikfabrik. Unseren Lohn bekamen wir nicht in Geld, sondern in Parfüm … in Kosmetik.«
»In unsere Klasse ging ein sehr armes Mädchen, ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie lebte bei ihrer Großmutter. Sie trug das ganze Jahr über ein und dasselbe Kleid. Und niemand hatte mit ihr Mitleid. Sehr schnell wurde es peinlich, arm zu sein …«
»Die Neunziger bedaure ich nicht … Das war eine brodelnde, helle Zeit. Ich, die ich mich nie für Politik interessiert und nie Zeitung gelesen hatte, ich ließ mich als Kandidatin für die Wahlen aufstellen. Und wer waren die Vordenker der Perestroika? Schriftsteller und Künstler … Dichter … Auf dem Ersten Kongress der Volksdeputierten der UdSSR hätte man Autogramme sammeln können. Mein Mann ist Ökonom, ihn machte das verrückt. ›Die Herzen brennen mit dem Wort 10 , das können die Dichter. Eine Revolution machen, das werdet ihr. Aber dann – wie weiter? Wie werdet ihr die Demokratie aufbauen? Wer wird das tun? Ist doch klar, was dabei rauskommt.‹ Er hat mich ausgelacht. Deshalb ließen wir uns scheiden. Aber er hatte recht.«
»Die Leute hatten Angst, darum gingen sie plötzlich in die Kirche. Als ich noch an den Kommunismus glaubte, brauchte ich keine Kirche. Und meine Frau geht mit, weil der Priester in der Kirche zu ihr sagt: ›Meine Liebe …‹«
»Mein Vater war ein aufrechter Kommunist. Ich gebe den Kommunisten keine Schuld, ich gebe dem Kommunismus die Schuld. Ich weiß bis heute nicht, was ich von Gorbatschow halten soll … Von diesem Jelzin … Schlangestehen und leere Geschäfte vergisst man leichter als die rote Fahne auf dem Reichstag …«
»Wir haben gesiegt. Aber wen haben wir besiegt? Und wozu? Im Fernsehen läuft auf einem Sender ein Film, in dem die Roten die Weißen schlagen, auf einem anderen Sender schlagen die tapferen Weißen die Roten. Das ist doch
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