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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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das haben sie erst jetzt begriffen … Aber1991 , da sind alle zur Revolution gelaufen. Auf die Barrikaden. Sie wollten Freiheit, und was haben sie bekommen? Jelzins … Banditenrevolution. Der Sohn meiner Freundin wurde beinahe erschlagen, weil er die sozialistischen Ideen verteidigt hat. Das Wort »Kommunist« galt als Beleidigung. Die Jungs auf dem eigenen Hof haben ihn fast totgeschlagen. Jungs, die er kannte. Sie saßen im Pavillon, spielten Gitarre und redeten: Bald ziehen wir los gegen die Kommunisten, wir hängen sie an Laternenpfählen auf. Mischka Sluzer, ein belesener Junge, sein Vater arbeitete bei uns im Kreiskomitee, der zitierte ihnen den englischen Schriftsteller Chesterton: »Ein Mensch ohne Utopie ist weit schrecklicher als ein Mensch ohne Nase …« Dafür haben sie ihn halb totgeprügelt, ihn getreten … mit Schuhen, mit Stiefeln. »Ach, du Judenbalg! Wer hat denn 1917 die Revolution gemacht?!« Ich erinnere mich an das böse Glitzern in den Augen der Menschen zu Beginn der Perestroika, das werde ich nie vergessen. Sie hätten die Kommunisten am liebsten gelyncht … in Lager deportiert … Die Müllcontainer waren voll mit Büchern von Majakowski, Gorki … Die Schriften Lenins landeten im Altpapier … Ich habe sie aufgesammelt … ja! Da!! Ich sage mich von nichts los! Ich schäme mich für nichts! Ich habe nicht die Farbe gewechselt von Rot zu Grau. Es gibt solche Menschen: Wenn die Roten kommen, begrüßen sie freudig die Roten, kommen die Weißen, begrüßen sie freudig die Weißen. Die Wendemanöver waren unglaublich: Gestern war einer noch Kommunist, heute ist er Ultrademokrat. Vor meinen Augen wurden »aufrichtige« Kommunisten zu Gläubigen und Liberalen. Ich dagegen, ich liebe das Wort »Towarischtsch« II und werde es immer lieben. Ein gutes Wort! Sowok? Hüten Sie Ihre Zunge! Der sowjetische Mensch war ein großartiger Mensch, er ging in den Ural und in die Wüste – um der Idee willen, nicht für Dollars. Nicht für fremde grüne Scheine. Das Wasserkraftwerk Dnepro GES , die Stalingrad-Schlacht, der Aufbruch in den Kosmos – das alles war er. Der große Sowok! Ich schreibe noch immer gern UdSSR . Das war mein Land, jetzt dagegen lebe ich in einem Land, das nicht meins ist. Ich lebe in einem fremden Land.
    Ich bin sowjetisch geboren … Unsere Großmutter glaubte nicht an Gott, sie glaubte an den Kommunismus. Und mein Vater hat bis zu seinem Tod darauf gewartet, dass der Sozialismus wiederkehrt. Die Berliner Mauer war schon gefallen, die Sowjetunion zusammengebrochen, aber er wartete noch immer. Mit seinem besten Freund hat er sich für immer entzweit, weil der die Fahne einen roten Lappen genannt hat. Unsere rote Fahne! Das rote Banner! Vater war im Finnischen Krieg, wofür sie dort kämpften, verstand er eigentlich nicht, aber es musste sein, also ging er. Über diesen Krieg wurde geschwiegen, er wurde nicht als Krieg bezeichnet, sondern als »Finnische Kampagne«. Aber mein Vater hat uns davon erzählt … Leise. Zu Hause. Selten, aber er erzählte. Wenn er etwas getrunken hatte. Die Landschaft seines Krieges war eine Winterlandschaft: Wald und meterhoher Schnee. Die finnischen Soldaten kamen auf Skiern und in weißen Tarnumhängen, sie tauchten unerwartet auf wie Engel. »Wie Engel« – das waren Vaters Worte … Manchmal töteten sie in einer Nacht eine ganze Grenzkompanie. Die Toten … In Vaters Erinnerung lagen die Toten immer in Blutlachen. Es war so viel Blut, dass es den meterhohen Schnee durchtränkte. Nach dem Krieg konnte Vater nicht einmal ein Huhn töten. Oder ein Kaninchen. Er litt unter dem Anblick eines getöteten Tieres, unter dem Geruch von warmem Blut. Er fürchtete große Bäume mit dichter Krone, auf solchen Bäumen hatten oft finnische Scharfschützen gelauert, »Kuckuck« nannten sie die. (Sie schweigt.) Ich will noch etwas ergänzen … Von mir … Ich erinnere mich … Daran, wie nach dem Sieg unsere kleine Stadt in Blumen ertrank, eine wahre Orgie war das. Vor allem Dahlien, ihre Knollen müssen im Winter gut geschützt aufbewahrt werden, damit sie nicht erfrieren. Gott bewahre! Sie wurden eingehüllt und gebettet wie Babys. Blumen wuchsen vor den Häusern, hinter den Häusern, an Brunnen und Zäunen. Nach all der Angst möchte man besonders gern leben, sich freuen. Später verschwanden die Blumen, jetzt ist das alles nicht mehr da. Aber ich erinnere mich daran … Gerade eben musste ich daran denken … (Sie schweigt.) Mein Vater … Gekämpft hat

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