Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
unser Vater nur ein halbes Jahr, dann geriet er in Gefangenschaft. Wie er in Gefangenschaft geriet? Sie rückten über einen gefrorenen See vor, und die gegnerische Artillerie beschoss das Eis. Nur wenige erreichten das Ufer, und diejenigen, die es schafften, waren völlig entkräftet und unbewaffnet. Halbnackt. Die Finnen streckten ihnen die Hände entgegen. Retteten sie. Manche griffen nach den Händen, andere … Es gab viele, die vom Feind keine Hilfe annahmen. So waren sie erzogen. Aber mein Vater griff nach einer Hand, und er wurde herausgezogen. Ich erinnere mich noch gut an seine erstaunten Worte: »Sie gaben mir Schnaps zum Aufwärmen. Und etwas Trockenes zum Anziehen. Sie lachten und klopften mir auf die Schulter: ›Du lebst, Iwan!‹« Vater hatte vorher noch nie einen Feind aus der Nähe gesehen. Er verstand nicht, warum sie sich freuten …
1940 endete die Finnische Kampagne … Die sowjetischen Kriegsgefangenen wurden ausgetauscht gegen Finnen, die bei uns in Gefangenschaft gewesen waren. Sie marschierten in Kolonnen aufeinander zu. Als die Finnen bei ihren Leuten ankamen, gab es Umarmungen … Händeschütteln … Unsere wurden anders empfangen, sie wurden empfangen wie Feinde. »Brüder! Ihr Lieben!«, so liefen sie auf ihre Landsleute zu. »Stehen bleiben! Einen Schritt zur Seite, und es wird geschossen!« Soldaten mit Schäferhunden umzingelten die Kolonne und brachten die Männer in eigens eingerichtete Baracken. Um die Baracken herum – Stacheldraht. Dann begannen die Verhöre. »Wie bist du in Gefangenschaft geraten?«, fragte der Vernehmer meinen Vater. »Die Finnen haben mich aus einem See gefischt.« »Du bist ein Verräter! Du hast an deine eigene Haut gedacht statt an deine Heimat.« Vater hielt sich auch selbst für schuldig. So waren sie erzogen … Eine Gerichtsverhandlung gab es nicht. Sie mussten alle auf dem Appellplatz antreten, dann wurde der Befehl verlesen: sechs Jahre Lager wegen Vaterlandsverrats. Sie kamen nach Workuta. Dort verlegten sie Eisenbahngleise im Permafrostboden. Mein Gott! 1941 … Die Deutschen standen schon vor Moskau … Doch denen im Lager sagte man nicht, dass der Krieg ausgebrochen war. Sie waren ja Feinde, sie würden sich freuen. Ganz Weißrussland war schon von den Deutschen besetzt. Smolensk eingenommen. Als sie es erfuhren, wollten sie alle sofort an die Front, schrieben Briefe an den Lagerchef … an Stalin … Sie bekamen zur Antwort: Nichts da, ihr Schweine, arbeitet gefälligst im Hinterland für den Sieg, an der Front können wir keine Verräter gebrauchen. Und sie … mein Vater … das hat mein Vater mir erzählt … Sie alle weinten … (Sie schweigt.) Mit ihm sollten Sie sich treffen … Aber Vater lebt nicht mehr. Das Lager hat ihm das Leben verkürzt … und die Perestroika … Er hat sehr darunter gelitten. Er verstand nicht, was da passierte. Mit dem Land, mit der Partei. Unser Vater … In den sechs Jahren Lager hatte er vergessen, wie ein Apfel aussieht und ein Kohlkopf. Ein Laken und ein Kissen … Dreimal am Tag bekamen sie eine dünne Suppe, einen Laib Brot für fünfundzwanzig Mann. Zum Schlafen hatten sie ein Holzscheit unterm Kopf und statt Matratzen den Bretterfußboden. Und er … er war seltsam, anders als die Väter der anderen … Er konnte kein Pferd und keine Kuh schlagen, keinen Hund treten. Mir tat mein Vater immer leid. Die anderen Männer lachten über ihn: »Du willst ein Kerl sein? Du bist ein Weib!« Meine Mutter weinte, weil er … na ja, weil er nicht so war wie die anderen. Er nimmt einen Kohlkopf in die Hand und betrachtet ihn … Eine Tomate … Die erste Zeit schwieg er überhaupt nur, gar nichts erzählte er uns. Erst nach zehn Jahren fing er an zu reden. Nicht früher … Ja … Eine Zeitlang musste er im Lager Tote transportieren. Jeden Tag kamen zehn, fünfzehn Leichen zusammen. Die Lebenden kehrten zu Fuß in die Baracken zurück, die Toten auf Schlitten. Sie mussten den Toten die Kleider ausziehen, dann lagen sie nackt auf den Schlitten, wie tote Hasen. Das sind Vaters Worte … Ach, ich erzähle so durcheinander. Das sind die Gefühle … das wühlt mich auf, ja … Die ersten zwei Jahre im Lager glaubte niemand ans Überleben, von zu Hause sprachen nur diejenigen, die fünf, sechs Jahre absitzen mussten, wer zu zehn bis fünfzehn Jahren verurteilt war, redete nicht von zu Hause. Nicht von der Ehefrau, nicht von den Kindern. Nicht von den Eltern. »Wenn du anfängst, daran zu denken, überlebst du nicht«
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