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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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schizophren!«
     
    »Wir reden dauernd vom Leiden … Das ist unser Weg der Erkenntnis. Die Menschen im Westen erscheinen uns naiv, weil sie nicht so leiden wie wir, sie haben gegen jeden Pickel eine Medizin. Aber wir haben im Lager gesessen, im Krieg war der Boden mit unseren Leichen übersät, wir haben in Tschernobyl mit bloßen Händen radioaktiven Graphit eingesammelt … Und nun sitzen wir auf den Trümmern des Sozialismus. Wie nach dem Krieg. Wir haben so vieles durchgemacht, so viele Schläge eingesteckt. Wir haben unsere eigene Sprache … Die Sprache des Leidens …
    Ich habe versucht, mit meinen Studenten darüber zu sprechen … Sie lachten mir ins Gesicht: ›Wir wollen nicht leiden. Leben ist für uns etwas anderes.‹ Wir haben die Welt, in der wir bis vor kurzem gelebt haben, noch nicht verstanden und leben schon in einer neuen. Eine ganze Zivilisation auf den Müll geworfen …«
     
     
    I Tschelnoki – russ. »Weberschiffchen« –, Bezeichnung für die kleinen Händler, die in den neunziger Jahren zwischen der Sowjetunion und der Türkei, China, den Arabischen Emiraten und Polen hin- und herpendelten.

 
     
     
    ZEHN GESCHICHTEN IN ROTEM INTERIEUR

VOM SCHÖNEN AN DER DIKTATUR
UND VON SCHMETTERLINGEN IN ZEMENT
     
Jelena Jurjewna S. –
Dritter Sekretär des Partei-Kreiskomitees, 49 Jahre alt
     
     
    Sie erwarteten mich zu zweit – Jelena Jurjewna, mit der ich verabredet war, und ihre Moskauer Freundin Anna Iljinitschna M., die zu Besuch gekommen war. Sie schaltete sich sofort in unser Gespräch ein: »Ich wünsche mir schon lange, dass mir jemand erklärt, was mit uns geschieht.« Nichts in ihrer beider Berichten war identisch, bis auf die Kennzeichnungen durch die Namen: Gorbatschow, Jelzin … Aber jede hatte ihren eigenen Gorbatschow, ihren eigenen Jelzin. Und ihre eigenen neunziger Jahre.
     
    Jelena Jurjewna
    Muss man etwa schon vom Sozialismus erzählen? Wem denn? Noch sind alle Zeitzeugen. Ehrenwort, es wundert mich, dass Sie zu mir kommen. Ich bin Kommunistin … Nomenklaturkader … Uns lässt doch jetzt keiner mehr zu Wort kommen … Sie verbieten uns den Mund … Lenin ist ein Bandit, Stalin … Wir sind alle Verbrecher, dabei habe ich keinen Tropfen Blut an den Händen. Aber wir sind gebrandmarkt, wir alle …
    Vielleicht wird man in hundert oder fünfzig Jahren über unser Leben, das sich Sozialismus nannte, einmal objektiv berichten. Ohne Tränen und Verwünschungen. Wird es ausgraben wie das antike Troja.Vor kurzem durfte man überhaupt nichts Gutes über den Sozialismus sagen. Im Westen hat man nach dem Zusammenbruch der UdSSR begriffen, dass die marxistischen Ideen nicht erledigt sind, dass man sie weiterentwickeln muss. Statt sie anzubeten. Marx war dort kein Idol gewesen wie bei uns. Kein Heiliger! Erst haben wir ihn angebetet, dann haben wir ihn verflucht. Alles negiert. Auch die Wissenschaft hat der Menschheit unermessliches Leid gebracht. Dann rotten wir doch die Wissenschaftler aus! Verfluchen wir die Väter der Atombombe, oder fangen wir am besten mit denen an, die das Schießpulver erfunden haben! Mit denen … Habe ich nicht recht? (Sie lässt mir keine Zeit, darauf zu antworten.) Es ist richtig … ganz richtig, dass Sie aus Moskau rausgekommen sind. Nach Russland sozusagen. Wenn man durch Moskau geht, sieht es so aus, als wären auch wir Europa: schicke Autos, Restaurants … Funkelnde goldene Kuppeln! Aber hören Sie sich mal an, worüber die Menschen bei uns reden, hier in der Provinz … Russland, das ist nicht Moskau, Russland, das ist die Provinz: Samara, Toljatti 1 , Tscheljabinsk, ein x-beliebiges Nest … Was kann man in Moskauer Küchen schon über Russland erfahren? Auf Partys? Bla-bla-bla … Moskau ist die Hauptstadt eines anderen Landes, nicht von dem jenseits des Stadtrings. Ein Touristenparadies. Glauben Sie Moskau nicht …
    Wenn man zu uns kommt, heißt es gleich: Na, das ist noch sowjetisch. Die Menschen hier sind arm, selbst für russische Verhältnisse. Sie schimpfen auf die Reichen, sind auf alle wütend. Schimpfen auf den Staat. Sie fühlen sich betrogen. Niemand hatte ihnen gesagt, dass der Kapitalismus kommen würde. Sie dachten, der Sozialismus würde verbessert werden. Das Leben, das sie alle kannten. Das sowjetische Leben. Während sie sich auf Kundgebungen heiser schrien: »Jelzin! Jelzin!«, wurden sie ausgeplündert. Ohne sie wurden Betriebe und Fabriken aufgeteilt. Auch das Öl und das Gas, das, was sozusagen von Gott kommt. Doch

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