Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
verkündeten sie uns den Kapitalismus … Versprachen, wenn erst die Kommunisten weg wären, dann würde alles gut werden. Unser Volk ist misstrauisch. Durch Leid erfahren. Die Leute rannten sofort los und kauften Salz und Streichhölzer. Das Wort »Perestroika« klang in ihren Ohren wie »Krieg«. Vor unseren Augen wurden die Kolchose geplündert … die Betriebe … Und dann für ein paar Kopeken aufgekauft. Was wir unser ganzes Leben lang aufgebaut hatten, das wurde nun zu Schleuderpreisen verscherbelt. Das Volk bekam Vouchers … es wurde betrogen. Diese Vouchers liegen bei mir noch heute in der Anrichte. Die Bescheinigung für Oleska … und diese Papiere … Ist das Kapitalismus, oder was? Die russischen Kapitalisten, die habe ich gesehen, bis zum Überdruss, das waren nicht alles Russen, auch Armenier waren darunter und Ukrainer. Sie haben beim Staat hohe Kredite aufgenommen und das Geld nicht zurückgezahlt. Diese Leute hatten ein gieriges Glitzern in den Augen … Wie Kriminelle. Dieses typische Glitzern, das kenne ich nur zu gut. Dort in Sibirien waren ja überall Lager und Stacheldraht. Wer hat denn den Norden erschlossen? Häftlinge und wir Habenichtse. Das Proletariat. Aber so sahen wir uns damals nicht …
Meine Mutter entschied schließlich … Es gab nur einen Ausweg – zurück nach Rjasan. Dorthin, woher wir stammten. Auf der Straße wurde schon geschossen – die UdSSR wurde aufgeteilt. Zerrissen … in Stücke geteilt … Die Banditen waren plötzlich die Herren, und die Klugen waren die Dummen. Wir hatten das alles aufgebaut und es diesen Banditen überlassen … So ist es doch, oder? Wir selbst gingen mit leeren Händen fort, mit unserem Hausrat. Und sie bekamen die Betriebe … die Gruben … Zwei Wochen waren wir mit dem Zug unterwegs, mitsamt unserer Habe – Kühlschrank, Bücher, Möbel … Fleischwolf, Geschirr … so was eben … Zwei Wochen lang schaute ich aus dem Fenster: russische Erde ohne Ende und ohne Grenze. Unser Mütterchen Russland ist zu »groß und reich«, um darin Ordnung zu schaffen. Das war 1994 … Schon unter Jelzin … Und was erwartete uns zu Hause? Lehrer arbeiteten als Handlanger bei aserbaidschanischen Händlern, verkauften Obst und Pelmeni. In Moskau reichten die Marktstände vom Bahnhof bis zum Kreml. Plötzlich gab es Bettler. Dabei waren wir alle sowjetisch! Sowjetisch! Lange schämten sich alle.
Auf dem Markt in der Stadt bin ich mal mit einem Tschetschenen ins Gespräch gekommen … Seit fünfzehn Jahren herrscht bei ihnen Krieg, deshalb suchen sie hier Schutz. Sie sind über ganz Russland verstreut … in verschiedenen Ecken des Landes … Doch es ist Krieg … Russland führt Krieg gegen sie … Ein »Sondereinsatz« … Doch was ist das für ein Krieg? Der Tschetschene war noch jung. »Ich kämpfe nicht, gute Frau. Meine Frau ist Russin.« Ich habe mal eine Geschichte gehört … ich kann sie Ihnen erzählen … Ein tschetschenisches Mädchen hatte sich in einen russischen Piloten verliebt. Einen hübschen Kerl. In beiderseitigem Einverständnis, sie hatten das so abgesprochen, entführte er sie von zu Hause und brachte sie nach Russland. Sie heirateten. Alles, wie es sich gehört. Sie bekamen einen Jungen. Doch sie weinte und weinte, ihre Eltern taten ihr leid. Also schrieben sie ihnen einen Brief: Verzeiht uns … wir lieben uns … Sie übermittelten auch Grüße von der russischen Mutter. Doch die Brüder der Tschetschenin hatten ihre Schwester all die Jahre gesucht, sie wollten sie töten, weil sie Schande über die Familie gebracht hatte – sie hatte einen Russen geheiratet, schlimmer noch, einen Russen, der Bomben auf sie geworfen hatte. Der getötet hatte. Mit dem Absender auf dem Brief fanden sie die Schwester rasch … Sie hatten ja nun die Adresse … Ein Bruder erstach sie, und später kam ein zweiter Bruder, um sie nach Hause zu holen. (Sie schweigt.) Dieser elende Krieg … dieses Unglück … ist zu mir nach Hause gekommen. Ich sammle nun alles … ich lese alles über Tschetschenien, was ich finde. Stelle Fragen … Ich würde gern dorthin fahren. Und dort getötet werden … (Sie weint.) Dann wäre ich glücklich … Das wäre mein Mutterglück … Ich kenne eine Frau … Von ihrem Sohn ist nicht einmal ein Schuh übrig geblieben, eine Granate hatte ihn voll getroffen. »Ich wäre glücklich«, sagte sie zu mir, »wenn er in Heimaterde begraben wäre. Wenigstens ein kleines Stück von ihm …« Das wäre für sie schon Glück … Der
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