Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Oleska kein Wort … niemand erwähnte sie … Ich wartete … hielt mir das Radio direkt ans Ohr … Sie mussten sie doch erwähnen! Dann kam Werbung … Werbung für ein Waschpulver … (Sie weint.) Mein Mädchen war vergessen. Das durfte nicht sein! Oleska … Sie war die Erste … der erste »tschetschenische« Sarg in der Stadt. Nach einem Monat kamen noch zwei Särge – ein älterer Milizionär und ein ganz junger. Von ihnen nahmen die Einwohner im Theater Abschied. Es gab eine Ehrenwache. Einen Kranz von der Stadt … vom Bürgermeister … Reden. Beerdigt wurden sie an der Heldenallee, wo die »afghanischen« Jungs liegen … und jetzt auch die »tschetschenischen«. Auf unserem Friedhof gibt es zwei Alleen – die Heldenallee und eine andere – die Leute nennen sie die Banditenallee. Die Banditen führen Krieg gegeneinander und schießen sich gegenseitig tot. Perestroika – Perestrelka XLVII . Die Banditen haben die besten Plätze auf dem Friedhof. Särge aus Mahagoni mit Goldintarsien und mit elektronischer Kühlung. Und Ruhmeshügel statt einfacher Grabsteine. Für die Helden stellt der Staat Grabsteine auf. Soldatische Grabsteine, na ja, bescheidene. Und auch das nicht für alle. Die Vertragssoldaten bekommen keine. Ich weiß von einer Mutter, die war deswegen im Wehrbezirksamt, da wurde sie abgewiesen: »Dein Sohn hat für Geld gekämpft.« Meine Oleska … sie liegt getrennt von allen, sie ist ja bloß eine Selbstmörderin … Uh-h-h (Sie kann nicht weitersprechen.) Und unsere Nastenka … Sie bekommt eine Rente für ihre Mutter – tausendfünfhundert Rubel, umgerechnet fünfzig Dollar im Monat. Wo ist da die Wahrheit? Die Gerechtigkeit? Die Rente ist so klein, weil ihre Mama keine Heldin ist! Ja, wenn ihre Mama jemanden getötet hätte, jemanden mit einer Granate in die Luft gesprengt hätte … Aber ihre Mama hat sich selbst getötet … sonst niemanden … Sie ist keine Heldin! Wie erklärt man das einem Kind? Was soll ich ihr sagen?In einer Zeitung stand etwas, das Oleska angeblich gesagt hat: »Meine Tochter wird sich nicht für mich schämen müssen.« Die ersten Tage nach der Beerdigung … Nastenka saß ganz abwesend da, als wäre sie gar nicht vorhanden oder als wüsste sie nicht, wo sie ist. Niemand konnte sich entschließen … Ich habe dann zu ihr gesagt: »Oleska ist … deine Mama ist nicht mehr da …« Sie stand vor mir und schien mich gar nicht zu hören, ich habe geweint, aber sie hat nicht geweint. Und später … wenn ich Oleska irgendwie erwähnte … dann schien sie das gar nicht zu hören. Das ging lange so, ich ärgerte mich sogar darüber. Ich ging mit ihr zu einem Psychologen. Er sagte: Das Kind ist normal, aber es hat eine starke Erschütterung erlebt. Auch bei ihrem Papa waren wir. Ich habe ihn gefragt: »Nimmst du das Kind zu dir?« »Wo soll ich denn hin mit ihr?« Er hat dort in seiner neuen Familie auch schon ein Kind. »Dann verzichte auf die Vaterschaft.« »Wieso denn? Vielleicht brauche ich ja im Alter mal Unterstützung. Ein paar Kopeken …« So ein Papa ist das … Hilfe bekommen wir von ihm keine. Nur Oleskas Freunde besuchen uns … Zu Nastenkas Geburtstag sammeln sie immer ein bisschen Geld und bringen es uns. Einen Computer haben sie ihr gekauft. Die Freunde denken an sie.
Ich wartete auf einen Anruf. Ihre Einheit war zurückgekehrt – der Kommandeur und die Kameraden, mit denen sie dort gewesen war. Sie würden mich doch anrufen … Ganz bestimmt! Das Telefon schwieg … Da habe ich mich selbst auf die Suche gemacht … Namen, Telefonnummern. Der Kommandeur hieß Klimkin … Seinen Namen wusste ich aus der Zeitung. Alle! Alle Zeitungen haben über sie geschrieben – über die russischen Recken! Die Recken von Rjasan. In einer Zeitung stand sogar ein Artikel von Klimkin, in dem er der Einheit für den guten Dienst dankte. Sie haben, schrieb er, ihre Pflicht ehrenvoll erfüllt … Auch noch ehrenvoll … Ich rief in seinem Milizrevier an. »Verbinden Sie mich bitte mit Major Klimkin.« »Wer möchte ihn denn sprechen?« »Ljudmila Wassiljewna Nikolajewa, die Mutter von Olesja Nikolajewa.« »Er ist nicht da.« »Er hat zu tun.« »Er ist verreist.« Du als Kommandeur … du solltest selbst zur Mutter gehen und ihr erzählen, wie es war. Solltest sie trösten. Ihr danken. So sehe ich das … (Sie weint.) Ich weine, aber es sind Tränen der Wut … Ich wollte Oleska nicht weglassen, ich habe sie angefleht, aber meine Mutter sagte: »Wenn es sein muss, soll
Weitere Kostenlose Bücher