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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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da noch am Leben und nicht im Irrenhaus sind! Gott schenke ihr himmlischen Frieden!« Er hat für meine Tochter gebetet … Die Leute erzählten alles Mögliche: Wegen eines Mannes habe sie sich erschossen. Betrunken. Jeder wisse doch, dass sie da rund um die Uhr saufen würden. Männer wie Frauen. Ich habe jede Menge Kummer geschluckt … ( Sie w eint.)
    Als sie damals ihren Koffer packte … Da hätte ich am liebsten alles zerrissen und zertrampelt. Ich biss mir in die Hände, um mich zu beherrschen. Ich konnte nicht schlafen. Alle Knochen taten mir weh, ich hatte Krämpfe im ganzen Körper. Ich schlief nicht richtig … aber ich hatte seltsame Träume … In einem war ewiges Eis, ewiger Winter. Alles silbrig blau … In einem anderen laufen Oleska und Nastenka über Wasser, sie laufen und laufen und können das Ufer nicht erreichen. Überall nur Wasser … Ich sehe Nastenka, doch Olesja verliere ich bald aus den Augen … Sie ist weg … Ich erschrecke im Traum und rufe: »Oleska! Oleska!« Sie taucht auf. Aber nicht wie lebendig, sondern wie ein Bild … wie ein Foto … und links hat sie einen blauen Fleck. Genau an der Stelle, wo später die Kugel eingedrungen ist … (Sie schweigt.) Da packte sie gerade erst ihren Koffer … »Mama, ich fahre. Ich habe schon ein Gesuch eingereicht.« »Du ziehst allein ein Kind groß. Sie dürfen dich nicht dorthin schicken.« »Mama, sie entlassen mich, wenn ich nicht gehe. Du weißt doch, bei uns ist alles freiwilliger Zwang. Aber du musst nicht weinen … Dort wird nicht mehr geschossen, dort wird jetzt aufgebaut. Ich werde den Aufbau schützen. Ich gehe hin und werde Geld verdienen wie die anderen.« Vor ihr waren schon andere Milizmädchen dort gewesen, und ihnen war nichts passiert. »Und danach fahren wir beide nach Ägypten, schauen uns die Pyramiden an« – das war so ein Traum von ihr. Sie wollte ihrer Mutter eine Freude machen. Wir waren arm … lebten von ein paar Kopeken … Wenn man in die Stadt geht, sieht man überall Werbung: Kauf dir ein Auto … auf Raten … Kauft! Kauft! In jedem Geschäft steht mitten im Verkaufssaal ein Tisch, manchmal auch zwei: Wenn du jetzt kein Geld hast, nimm einen Kredit auf. Vor den Tischen steht immer eine Schlange. Die Menschen haben die Armut satt, alle möchten gern schön leben. Dochich wusste manchmal nicht, was ich zu essen machen sollte, selbst die Kartoffeln gingen zur Neige. Und die Nudeln. Oft reichte es nicht mal für die Busfahrt. Nach der Berufsschule war Olesja an die pädagogische Hochschule gegangen, an die psychologische Fakultät, aber sie studierte nur ein Jahr lang – wir hatten nicht das Geld für die Gebühren. Sie wurde exmatrikuliert. Meine Mutter hat umgerechnet hundert Dollar Rente, und ich bekomme genauso viel. Die da oben … die fördern Öl und Gas … aber von diesen Dollars kriegen wir nichts ab, die stecken sie sich in die eigene Tasche. Die einfachen Leute wie wir, die gehen durch die Geschäfte wie durch Museen, die können sich nichts kaufen. Und im Radio, das ist die reinste Provokation, als wollten sie das Volk mit Absicht wütend machen, im Radio tönen sie: Liebt die Reichen! Die Reichen sind unsere Rettung! Sie werden uns Arbeit geben … Im Fernsehen zeigen sie, wie die Reichen Urlaub machen … was sie essen … Sie haben Häuser mit Swimmingpool … Einen eigenen Gärtner, einen eigenen Koch … Wie früher die Gutsbesitzer … unterm Zaren … Das sieht man abends, wenn man den Fernseher anmacht – einfach widerlich –, da gehe ich lieber schlafen. Früher haben viele Menschen für Jawlinski 1 gestimmt und für Nemzow 2 … Früher habe ich mich auch engagiert, bin zu jeder Wahl gegangen. Ich war eine Patriotin. Nemzow gefiel mir, weil er jung war und gut aussah. Doch dann war klar, dass auch die Demokraten vor allem ein schönes Leben wollten. Darüber haben sie uns vergessen. Der Mensch ist Staub … ein Staubkorn … Das Volk hat sich wieder den Kommunisten zugewandt … Unter denen gab es keine Milliardäre, alle hatten wenig, aber es reichte für alle. Jeder fühlte sich als Mensch. Ich war wie alle.
    Ich bin ein Sowjetmensch, auch meine Mutter ist ein Sowjetmensch. Wir haben für den Aufbau des Sozialismus und des Kommunismus gearbeitet. Den Kindern wurde beigebracht: Handel treiben ist eine Schande, und Geld macht nicht glücklich. Ernährt euch redlich und gebt euer Leben für die Heimat. Mein Leben lang war ich stolz darauf, ein Sowjetmensch zu sein, aber jetzt ist das

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