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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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beinahe peinlich, als wäre man kein vollwertiger Mensch mehr. Wir hatten die Ideale des Kommunismus, jetzt herrschen die Ideale des Kapitalismus: »Nimm auf niemanden Rücksicht, denn auf dich nimmt auch keiner Rücksicht.« »Mama«, sagte Oleska oft, »du lebst in einem Land, das es schon lange nicht mehr gibt. Du kannst mir nicht helfen.« Was haben sie mit uns gemacht? Was ist los mit uns … (Sie hält inne.) Ich möchte Ihnen so viel erzählen! So viel! Aber vor allem – ja, was? Nach Oleskas Tod … Da fand ich unter ihren Sachen ein Schulheft mit einem Aufsatz: »Was ist das Leben?« »Ich stelle mir ein Ideal vom Menschen vor …«, hat sie geschrieben. »Ein Lebensziel ist etwas, das dich bewegt, aufwärts zu streben …« Das habe ich sie gelehrt … (Sie schluchzt.) Als sie in den Krieg ging … sie konnte keine Maus töten … Alles war anders, als es hätte sein sollen, aber wie es war – das weiß ich nicht. Sie verbergen es vor mir … (Sie schreit.) Meine Tochter ist spurlos gestorben. Das darf nicht sein! Meine Mutter war im Vaterländischen Krieg zwölf Jahre alt, sie wurden nach Sibirien evakuiert. Dort arbeiteten die Kinder … in der Fabrik … sechzehn Stunden am Tag, genau wie die Erwachsenen. Für eine Essensmarke der Kantine, wo sie eine Schüssel Nudeln und ein Stück Brot bekamen. Brot! Sie produzierten Granaten für die Front. Manche starben neben ihrer Werkbank, weil sie noch so klein waren. Warum die Leute einander damals töteten – das verstand meine Mutter, doch warum sie heute töten, das versteht sie nicht. Niemand versteht das.Dieser elende Krieg! Argun … Gudermes … Chankala 3 … Wenn ich das höre, schalte ich den Fernseher aus …
    Ich habe ein Papier in der Hand: »… vorsätzlich … Schuss aus der Dienstwaffe …« Und ich habe Nastenka … neun Jahre alt ist Nastenka … Ich bin jetzt ihre Oma und ihre Mama. Krank, wie ich bin, dreimal von Chirurgen aufgeschnitten. Drei Operationen. Meine Gesundheit ist dahin, ja, gesund bin ich nicht mehr, wie auch? Ich bin in der Region Chabarowsk aufgewachsen. Ringsum nur Taiga. Wir lebten in Baracken. Apfelsinen und Bananen kannten wir nur von Bildern. Wir ernährten uns von Nudeln … von Milchpulver und Nudeln … ab und zu gab es mal Büchsenfleisch … Meine Mutter hatte sich nach dem Krieg in den Fernen Osten anwerben lassen, als die Jugend aufgerufen wurde, den Norden zu erschließen. Wie an die Front. Zu den Großbaustellen gingen nur Habenichtse wie wir. Leute, die nichts besaßen, kein Haus und keinen Hof. »Und ich träume nur vom Nebel und der Taiga süßem Duft« 4 – so hieß es in Liedern … in Büchern … wir aber waren ganz aufgedunsen vom Hunger. Der Hunger trieb uns zu Heldentaten. Als ich ein bisschen älter war … da ging ich auch auf die Baustelle … Meine Mutter und ich haben an der BAM gebaut, ich besitze eine Medaille »Für den Bau der Baikal-Amur-Magistrale« und einen Packen Urkunden. (Sie schweigt.) Woran kann ich mich noch erinnern? Im Winter um die fünfzig Grad minus, die Erde fror bis zu einem Meter tief zu. Weiße Bergkuppen … so weiß unterm Schnee, dass sie selbst bei schönem Wetter nicht mehr zu sehen waren. Nicht auszumachen. Diese Bergkuppen habe ich von ganzem Herzen liebgewonnen. Jeder Mensch hat eine Heimat … eine große Heimat … und eine kleine. Jeder Mensch … Meine kleine Heimat, die ist dort. Die Barackenwände waren dünn … die Toilette war draußen … Aber wir waren jung! Wir glaubten an die Zukunft … immer glaubten wir. Das Leben wurde tatsächlich von Jahr zu Jahr besser: Erst hatte niemand einen Fernseher … keiner! Und plötzlich tauchten welche auf. Wir lebten in Baracken … Und plötzlich bekamen die Ersten eine eigene Wohnung. Uns wurde versprochen: »Die jetzige Generation Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben.« Also – ich … ich würde im Kommunismus leben?? (Sie lacht.) Ich nahm ein Fernstudium auf, wurde Ökonomin. Für das Studium musste man nicht zahlen wie heute. Wie hätte ich mir das sonst leisten können? Dafür bin ich der Sowjetmacht dankbar. Ich habe in der Kreisverwaltung gearbeitet, in der Abteilung Finanzen. Ich kaufte mir einen Schaffellmantel … und ein flauschiges Wolltuch, darin wickelte ich mich im Winter ein – da schaute nur die Nase raus. Ich fuhr über die Dörfer, in den Kolchosen wurden Zobel, Blaufüchse und Nerze gezüchtet. Es ging uns schon ganz gut. Ich habe auch meiner Mutter einen Pelzmantel gekauft … Da

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