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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sie gehen.« Es muss sein! Heute hasse ich diesen Satz! Ich bin nicht mehr dieselbe … Wofür soll ich denn die Heimat lieben? Sie hatten uns versprochen: Demokratie, das ist, wenn es allen gut geht. Wenn es gerecht zugeht. Ehrlich. Das ist Lug und Trug … Der Mensch ist Staub … ein Staubkorn … Nur dass die Läden jetzt voll sind mit allem. Greif zu! Greif zu! Im Sozialismus gab es das nicht. Was wollte ich sagen? Ja, ich bin natürlich nur eine einfache sowjetische Frau … Mir hört niemand zu, denn ich habe ja kein Geld. Wenn ich Geld hätte, ja, dann wäre es etwas anderes. Dann hätten sie Angst vor mir … die Natschalniks … Heute regiert das Geld …
    Als Oleska wegging … Da freute sie sich: »Olga Kormtschaja kommt auch mit.« Sie waren zwei Frauen in der Einheit. Olga Kormtschaja … Ich habe sie auf dem Bahnhof gesehen, beim Abschied. »Das ist meine Mama«, sagte Oleska. Es gab einen Moment beim Abschied … Vielleicht scheint mir das nur in der Erinnerung so bedeutsam. Nach allem, was geschehen ist. Die Busse sollten jeden Augenblick abfahren … Die Hymne ertönte – alle weinten. Ich stand auf der einen Seite und lief plötzlich hinüber auf die andere Seite, Oleska hatte mir durchs Fenster etwas zugerufen, und ich hatte verstanden, dass sie wenden würden. Darum lief ich auf die andere Seite, um sie noch einmal zu sehen, ihr zu winken. Aber sie fuhren geradeaus, und ich sah sie nicht noch einmal. Mir wurde beklommen ums Herz. Und der Griff ihrer Handtasche war abgerissen … im letzten Augenblick … Vielleicht nehme ich das alles auch erst jetzt im Nachhinein so schwer … Mein Herzblut … (Sie weint.) Im Telefonbuch fand ich die Nummer von Olga Kormtschaja … Ich rief sie an. »Ich bin Olesjas Mutter … Ich möchte mich mit Ihnen treffen.« Sie schwieg lange, dann sagte sie irgendwie gekränkt, fast wütend: »Ich habe so viel durchgemacht … Wann lasst ihr mich endlich alle in Ruhe!« Und legte auf. Ich rief noch einmal an. »Bitte! Ich muss wissen … Ich flehe Sie an!« »Hören Sie auf, mich zu quälen!« Ich habe noch einmal angerufen … etwa einen Monat später … Ihre Mutter war dran: »Meine Tochter ist nicht zu Hause. Sie ist nach Tschetschenien gefahren.« Wieder! Nach Tschetschenien!? Wissen Sie, auch im Krieg kann man sich gut einrichten. Manche haben Glück … Der Mensch denkt ja nicht an den Tod – heute sterben müssen, das macht Angst, aber irgendwann später – das ist halb so schlimm. Für das halbe Jahr Dienst dort hat jeder sechzigtausend Rubel bekommen. Genug für ein gebrauchtes Auto. Und das Gehalt lief natürlich weiter. Oleska hatte vor ihrer Abreise eine Waschmaschine und ein Mobiltelefon auf Kredit gekauft … »Wenn ich zurückkomme, zahle ich es ab«, sagte sie. Nun müssen wir es abzahlen. Wovon? Die Zahlungsaufforderungen … wir sammeln sie … Nastenkas Turnschuhe sind ihr zu klein, sie kommt aus der Schule und weint, weil ihr die Zehen weh tun. Meine Mutter und ich legen unsere Renten zusammen, rechnen hin und her, und am Ende des Monats bleibt nichts übrig. Aber eine Tote hört keine Klagen …
    Zwei Menschen waren in den letzten Minuten bei ihr … Zwei Zeugen. Auf dem Kontrollposten … Eine kleine Bude – zwei mal zweieinhalb Meter. Nachtdienst. Sie waren zu dritt. Den Ersten habe ich gefunden … »Na ja, sie war bei uns«, erzählte er am Telefon, »wir haben zwei, drei Minuten miteinander geredet …« Dann ist er angeblich rausgegangen, weil er mal musste oder weil ihn jemand gerufen hatte. Er hörte drinnen einen Knall, kam gar nicht gleich darauf, dass das ein Schuss war. Er ging wieder rein, und da lag sie. Wie ihre Stimmung war? Gut war ihre Stimmung … ganz normal war sie davor. »Hallo.« »Hallo.« Sie hätten zusammen gelacht. Hihi, haha … Der zweite Zeuge … Ich rief auf seiner Arbeitsstelle an … zu einem Treffen kam er nicht, und seine Vorgesetzten ließen mich nicht an ihn ran … Er war bei ihr, als sie schoss, hatte sich aber angeblich genau in diesem Augenblick abgewandt. Genau in der Sekunde … Eine zwei-mal-zweieinhalb-Meter-Bude, und er hat nichts gesehen. Hatte sich abgewandt … Glauben Sie das? Ich habe die beiden angefleht: Erzählen Sie es mir … ich muss es wissen … Ich trage es bestimmt nicht weiter. Ich beschwöre Sie! Sie flohen vor mir, als hätte ich sie verbrüht. Sie hatten den Befehl zu schweigen. Die Ehre ihrer Uniform zu schützen. Man hat ihnen mit Dollars den Mund gestopft … (Sie schluchzt.)

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