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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Ohne Beine … blind … Egal, Nastenka und ich werden sie an die Hand nehmen und führen. Hauptsache, sie lebt! Irgendwen möchte man darum bitten, irgendwen … auf Knien darum anflehen …
    Viele, viele Menschen … das ganze Haus war voller fremder Menschen … Sie pumpten mich mit Medikamenten voll – ich lag da, kam zu mir – und sie riefen wieder den Notarzt. Ich hatte den Krieg bei mir zu Hause … Doch die anderen hatten ihr eigenes Leben. Niemand versteht fremdes Leid, mit Gottes Hilfe begreift man gerade mal das eigene. Oh-h-h … Alle dachten, ich schliefe, aber ich lag da und hörte alles. Es war bitter, so bitter …
     
    »Ich hab zwei Söhne. Sie gehen noch zur Schule. Ich spare, um sie vom Armeedienst freizukaufen …«
     
    »Unser Volk ist geduldig, das ist Fakt. Der Mensch ist Kanonenfutter … Der Krieg ist ein Job …«
     
    »Die Euro-Renovierung XLVI hat uns eine Stange Geld gekostet. Gut, dass wir die italienischen Fliesen schon vorher gekauft hatten, noch zum alten Preis. Wir haben uns Plastikfenster einbauen lassen. Und gepanzerte Türen …«
     
    »Die Kinder werden größer … Man hat seine Freude an ihnen, solange sie klein sind …«
     
    »Dort ist Krieg, und hier ist auch Krieg … Jeden Tag wird geschossen. Man hat Angst, wenn man im Bus sitzt, und man traut sich kaum, in die Metro zu steigen …«
     
    »Der Sohn meiner Nachbarin war arbeitslos, hat getrunken. Er hat sich als Vertragssoldat anwerben lassen. Nach einem Jahr kam er zurück, mit einem Koffer voll Geld – hat sich ein Auto gekauft, seiner Frau einen Pelzmantel und einen goldenen Ring. Hat mit seiner Familie Urlaub in Ägypten gemacht … Ohne Geld bist du heutzutage ein Nichts. Und wo kannst du schon welches verdienen?«
     
    »Sie plündern Russland aus … reißen es in Stücke … Ein großer Kuchen!«
     
    Dieser elende Krieg! Er war irgendwo weit weg gewesen … weit weg … Und plötzlich war er bei mir zu Hause. Ich hatte Oleska ein Kreuz um den Hals gehängt … Es hat sie nicht geschützt. ( Sie weint.)
    Am nächsten Tag brachten sie uns Oleska … Der Sarg troff … er war klitschnass … Wir haben ihn mit Laken abgewischt. Die Natschalniks: »Los, los, sie muss rasch unter die Erde.« »Nicht aufmachen – da drin ist alles Matsch.« Aber wir haben den Sarg trotzdem aufgemacht. Wir hofften noch immer, es sei vielleicht ein Irrtum. Im Fernsehen hatte es geheißen: Olesja Nikolajewa … einundzwanzig Jahre alt … Das Alter stimmte nicht. Vielleicht war es ja eine andere Olesja? Nicht unsere. »Da drin ist alles Matsch …« Sie drückten uns eine Bescheinigung in die Hand: »… vorsätzliche Selbstverletzung durch einen Schuss aus der Dienstwaffe in die rechte Kopfseite …« Doch was bedeutete mir schon ein Papier! Ich wollte sie selbst sehen, sie berühren. Sie mit eigenen Händen streicheln. Als wir den Sarg aufmachten – ihr Gesicht war wie lebendig, schön … und auf der linken Seite war ein kleines Loch … Ganz klein … winzig … wie von einer Bleistiftspitze. Auch das stimmte nicht, genau wie das Alter – das Loch war links, nicht rechts, wie es im Bericht hieß. Sie war mit einer gemischten Einheit von Milizionären aus ganz Rjasan nach Tschetschenien gegangen, und bei der Beerdigung half uns das Milizrevier, wo sie vorher gearbeitet hatte. Ihre Kameraden. Sie sagten alle einhellig: Das soll Selbstmord sein? Das war kein Selbstmord, der Schuss wurde aus zwei, drei Metern Entfernung abgegeben … Ein Schuss!? Die Natschalniks hatten es sehr eilig. Sie sorgten dafür, dass es schnell ging. Am späten Abend war sie gebracht worden, und am nächsten Tag um zwölf wurde sie schon begraben. Auf dem Friedhof … Oh-h-h … Ich hatte Kräfte … der Mensch kann ungeheuer stark sein … Sie nagelten den Sargdeckel zu, und ich riss ihn wieder auf … ich hätte die Nägel auch mit den Zähnen rausgerissen. Von den Natschalniks war keiner auf dem Friedhof. Alle hatten sich von uns abgewandt … der Staat als Erster … Der Priester wollte keine Totenmesse für sie lesen: Sie sei eine Sünderin gewesen … Gott würde eine solche verwirrte Seele nicht annehmen … Wieso … Wieso nur? Ich gehe jetzt oft in die Kirche … stelle eine Kerze auf … Einmal habe ich den Priester gefragt: »Liebt Gott etwa nur die schönen Seelen? Wenn das so ist, wozu brauchen wir Ihn dann?« Ich habe ihm alles erzählt … Ich habe das schon so viele Male erzählt … (Sie schweigt.) Der Priester hat geweint. »Dass Sie

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