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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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junge Tschetschene hat mich gefragt: »Gute Frau, hast du einen Sohn?« »Ich habe einen Sohn, aber meine Tochter ist in Tschetschenien umgekommen.« »Ihr Russen, ich frage euch: Was ist das für ein Krieg? Ihr tötet uns, macht uns zu Krüppeln, und dann behandelt ihr uns in euren Krankenhäusern. Ihr bombardiert und plündert unsere Häuser, und dann baut ihr sie wieder auf. Ihr redet uns ein, Russland sei unser Zuhause, aber ich muss wegen meiner tschetschenischen Visage jeden Tag die Miliz schmieren, damit sie mich nicht zu Tode prügeln. Mich nicht ausrauben. Ich sage ihnen immer wieder, dass ich nicht zum Töten hergekommen bin und nicht ihr Haus in die Luft sprengen will. Ich hätte in Grosny getötet werden können … aber hier kann ich auch getötet werden …«
    Solange mein Herz schlägt … (Verzweifelt.) So lange werde ich nachforschen. Ich will wissen, wie meine Tochter gestorben ist. Ich glaube niemandem.
     
    Sie öffnet die Anrichte, wo neben Kristallgläsern Papiere und Fotos liegen. Sie nimmt sie heraus und breitet sie auf dem Tisch aus.
     
    Meine Tochter war ein hübsches Mädchen … Und in der Schule immer eine Anführerin. Sie lief gern Schlittschuh. Ihre Leistungen waren mittelmäßig … normal … In der neunten Klasse verliebte sie sich in Romka … Ich war natürlich dagegen, er war sieben Jahre älter als sie. »Aber wenn es doch Liebe ist, Mama?« Eine wahnsinnige Liebe war das, wenn er sich mal nicht meldete, dann rief sie ihn an … »Warum rufst du ihn an?« »Aber wenn es doch Liebe ist, Mama?« Romka – sie sah nur noch ihn. Ihre Mutter hatte sie völlig vergessen. Gleich nach dem Abschlussball haben sie geheiratet. Dann kam schon das Kind. Romka trank, prügelte, und sie weinte. Ich hasste ihn. Ein Jahr lebten sie so zusammen. Er schnitt ihr die Kleider vom Leib, gute Kleider – aus Eifersucht. Er packte ihre Haare, wickelte sie um seine Hand – und schlug ihren Kopf gegen die Wand. Sie ertrug das alles, immer wieder … Auf ihre Mutter hörte sie nicht. Bis … Bis sie doch … Ich weiß nicht, wie … Bis sie doch weg ist von ihm. Wohin? Zur Mutter … »Mama, rette mich!« Da kam er einfach an und zog zu uns. Eines Nachts wache ich auf … von einem Schluchzen … Ich mache die Badtür auf, da steht er über ihr, ein Messer in der Hand … Ich das Messer gepackt, in die Hände hab ich mich geschnitten dabei. Ein andermal hatte er eine Pistole, eine Gaspistole, dachte ich, keine echte. Ich ziehe Oleska von ihm weg, da richtet er die Pistole auf mich: »Gleich bist du still!« Sie weinte und weinte, bis sie sich endlich trennten. Ich hab ihn rausgeworfen … (Sie schweigt.) Es verging … na, kein halbes Jahr … Eines Tages kommt sie von der Arbeit: »Romka hat geheiratet.« »Woher weißt du das?« »Er hat mich in der Stadt ein Stück mitgenommen.« »Und?« »Nichts weiter.« Er hat sehr schnell wieder geheiratet. Aber für sie war er die große Kinderliebe. Die man nie vergisst. (Sie zieht ein Blatt Papier aus dem Stapel.) Hier steht: »… vorsätzliche Selbstverletzung …« Der Rechtsmediziner schreibt von einem Schuss in die rechte Kopfseite, aber das Loch war links. Ein ganz kleines Loch … Vielleicht hat er die Tote gar nicht gesehen? Hat einfach hingeschrieben, was sie ihm befahlen. Weil er gut dafür bezahlt wurde.
    Ich hoffte … Ich wartete auf die Rückkehr ihrer Einheit. Ich wollte sie befragen … mir ein Bild machen … Das Loch links, doch im Papier steht – rechts. Ich musste es wissen … Inzwischen war schon Winter. Es fiel Schnee. Früher einmal mochte ich den Schnee … Auch Oleska liebte den Schnee, sie holte immer gleich ihre Schlittschuhe raus und fettete sie ein. Früher einmal … das ist lange, lange her. Es ist bitter, so bitter … Ich schaute aus dem Fenster: Die Menschen bereiteten sich auf Weihnachten vor, trugen Geschenke unterm Arm, Spielzeug. Tannenbäume. Und bei mir in der Küche lief ständig das Radio. Unser Lokalsender. Die Lokalnachrichten. Ich wartete. Endlich die langersehnte Nachricht: »Die Milizionäre aus Rjasan sind von ihrem Einsatz in Tschetschenien zurückgekehrt …« »Unsere Milizionäre haben ihre soldatische Pflicht ehrenhaft erfüllt …« »… uns keine Schande gemacht.« Sie wurden auf dem Bahnhof feierlich empfangen. Ein Orchester, Blumen. Sie bekamen Auszeichnungen überreicht und Sachgeschenke. Einer einen Fernseher, einer eine Armbanduhr. Sie waren Helden … Als Helden waren sie zurückgekehrt! Über

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