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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sie hier herum. Kein Tod ist ohne Grund, es gibt immer einen Grund. Der Tod findet einen Grund.
    Auf seinem Gurkenbeet hat der Mann gebrannt … Hat sich Azeton über den Kopf gegossen und mit einem Streichholz angezündet. Ich saß vorm Fernseher, da hörte ich plötzlich Schreie. Eine alte Stimme … die ich kenne … Klang wie Saschka … und eine junge Stimme. Ein Student war vorbeigekommen, das Technikum ist hier gleich in der Nähe, und hat gesehen – da brennt ein Mensch. Nein, was sagt man dazu! Er ist hingerannt, löschen. Hat sich selber dabei verbrannt. Als ich angelaufen kam, lag Saschka schon auf der Erde, hat gestöhnt … sein Kopf war ganz gelb … Ihr seid doch Fremde, was wollt ihr … Was geht euch fremdes Leid an?
    Alle wollen den Tod sehen. Oje! Also … also … In unserem Dorf, wo ich als junges Mädchen mit den Eltern wohnte, da lebte ein alter Mann, der ging gern zuschauen, wie jemand starb. Die Frauen schimpften mit ihm, jagten ihn aus der Hütte: »Geh weg, Teufel!«, aber er blieb sitzen. Er hat lange gelebt. Vielleicht war er wirklich der Teufel! Was gibt es da zu sehen? Wohin soll man schauen? In welche Richtung? Nach dem Tod ist nichts. Du stirbst und Schluss, wirst begraben. Wer noch lebt, auch wenn er unglücklich ist … der geht mal ins Freie, läuft durch den Garten … Doch wenn der Geist ausgefahren ist, dann ist der Mensch nicht mehr, dann ist er Erde. Der Geist, das ist der Geist, der Rest ist Erde. Erde und sonst nichts. Der eine stirbt schon in der Wiege, ein anderer lebt, bis er graue Haare bekommt. Glückliche Menschen wollen nicht sterben … und der … wer geliebt wird, der will das auch nicht. Der bittet um Aufschub. Aber wo sind sie, die glücklichen Menschen? Im Radio haben sie damals gesagt, dass nach dem Krieg alle glücklich werden, und Chruschtschow, das weiß ich noch, der hat versprochen, dass bald Kommunismus herrschen wird. Gorbatschow hat geschworen, er hat so schön gesprochen … Jetzt schwört Jelzin … dass er sich auf die Gleise legen will, wenn es uns schlechter gehen sollte … Ich habe gewartet und gewartet auf ein gutes Leben. Als ich klein war, hab ich gewartet … und als ich erwachsen war … Nun bin ich alt … Kurz gesagt, alle haben uns betrogen, das Leben ist noch schlechter geworden. Warte, hab Geduld, warte, hab Geduld. Warte, hab Geduld … Mein Mann ist gestorben. Ging raus auf die Straße, fiel hin, und aus war’s – das Herz hat versagt. Was wir durchgemacht haben, lässt sich mit keinem Maß messen, mit keiner Waage wiegen. Aber ich lebe immer noch. Ich lebe. Die Kinder sind fortgegangen: Der Sohn lebt in Nowosibirsk, die Tochter mit ihrer Familie in Riga, jetzt sozusagen im Ausland. In der Fremde. Dort sprechen sie nicht mehr Russisch.
    Ich habe in der Ecke meine Ikone, und ich halte mir einen Hund, damit ich wen zum Reden habe. Ein einzelnes Scheit gibt auch in der Nacht kein Licht … aber ich gebe mir Mühe. A-ach … Gut, dass Gott dem Menschen den Hund und die Katze geschenkt hat … den Baum und den Vogel … Das alles hat er ihm geschenkt, damit der Mensch sich freut und das Leben ihm nicht zu lang wird. Ihm nicht über wird. Mir wird eines nie über – zu sehen, wie der Weizen gelb wird. Ich habe so viel Hunger gelitten im Leben, dass ich nichts mehr liebe als zu sehen, wie das Korn reift, wie sich die Ähren wiegen. Das ist für mich wie für Sie ein Bild im Museum … Ich bin auch jetzt nicht hinter weißem Brot her, am besten schmeckt mir Schwarzbrot mit Salz und süßem Tee dazu. Warte, hab Geduld … warte und hab Geduld … Gegen jeden Schmerz haben wir nur eine Medizin – Geduld. So ist das Leben vergangen.Auch Saschka … unser Porfirjewitsch … Hat sich geduldet und geduldet, bis die Geduld zu Ende war. Er war erschöpft. Ja, der Körper wird in der Erde liegen, aber die Seele muss Rede und Antwort stehen. (Sie wischt sich die Tränen ab.) So ist das! Hier weinen wir … und wenn wir gehen, weinen wir auch …
    Die Leute glauben nun wieder an Gott, denn es gibt ja keine andere Hoffnung. Aber in der Schule haben wir damals gelernt – Lenin ist ein Gott, und Karl Marx ist ein Gott. Wir haben Korn in die Kirchen geschüttet, Rüben dort gelagert. Bis der Krieg begann. Als der Krieg begann … Da machte Stalin die Kirchen wieder auf, damit die Menschen für den Sieg der russischen Waffen beteten, und wandte sich an das Volk: »Brüder und Schwestern … meine Freunde …« Aber davor, wer waren wir da? Volksfeinde

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