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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Voreingenommenheit.
     
    Anna Iljinitschna
    Man mag über diese Tage lachen, sie operettenhaft nennen. Spott ist ja heute Mode. Aber damals war alles ernst gemeint. Aufrichtig. Alles war echt, und wir alle waren echt. Unbewaffnete Menschen standen vor den Panzern und waren bereit zu sterben. Ich habe auf diesen Barrikaden gesessen und diese Menschen gesehen, sie waren aus dem ganzen Land gekommen. Alte Moskauerinnen, Mütterchen mit Pusteblumenköpfen, brachten Buletten und noch warme gekochte Kartoffeln, in ein Handtuch eingewickelt. Die verteilten sie an alle … Auch an die Panzersoldaten. »Esst nur, Kinder. Aber schießt nicht. Das werdet ihr doch nicht, oder?« Die Soldaten begriffen überhaupt nichts … Als sie ihre Luken öffneten und aus den Panzern kletterten, waren sie verblüfft. Ganz Moskau war auf der Straße! Junge Mädchen kletterten zu ihnen hinauf, umarmten und küssten sie. Brachten ihnen Brötchen. Die Soldatenmütter, deren Söhne in Afghanistan gefallen waren, weinten. »Unsere Kinder sind auf fremdem Boden gestorben, und ihr – wollt ihr etwa auf eurem eigenen Boden sterben?« Ein Major verlor die Nerven, als die Frauen ihn umringten, und brüllte: »Ich bin ja selbst Vater. Ich werde nicht schießen! Das schwöre ich euch – ich werde nicht schießen! Gegen das Volk marschieren wir nicht!« Es gab eine Menge Komisches da und zu Tränen Rührendes. Plötzlich ein Schrei in der Menge: »Hat jemand Validol dabei, hier ist jemandem schlecht.« Sofort fand sich Validol. Eine Frau war da mit einem Kind im Kinderwagen (das hätte meine Schwiegermutter sehen sollen!), sie nahm eine Windel aus dem Wagen, um ein rotes Kreuz darauf zu malen. Aber womit? »Hat jemand einen Lippenstift?« Frauen warfen ihr Lippenstifte zu – Billigware und welche von Lancôme, Dior, Chanel … Niemand hat das gefilmt, in allen Einzelheiten festgehalten. Schade. Sehr schade. Eine klare Struktur und Schönheit, das bekommt ein Ereignis immer erst hinterher, all die Fahnen und die Musik … Alles wird »in Bronze gegossen« … Die Wirklichkeit aber ist zersplittert, schmutzig und lila: Die Menschen saßen die ganze Nacht am Feuer, auf dem nackten Boden. Auf Zeitungen und Flugblättern. Hungrig und wütend. Sie fluchten und tranken, aber keiner war betrunken. Irgendwer brachte Wurst, Käse und Brot. Kaffee. Es hieß, das seien Leute von Kooperativen … Businessmen … Einmal sah ich sogar einige Büchsen Kaviar. Die steckte sich gleich jemand in die Tasche. Auch Zigaretten wurden kostenlos verteilt. Neben mir saß ein junger Bursche, von Kopf bis Fuß voller Knasttätowierungen. Zum Fürchten! Rocker, Punks, Studenten mit Gitarren. Und Professoren. Seite an Seite. Das Volk! Das war mein Volk! Ich traf dort alte Studienfreunde wieder, die ich an die fünfzehn Jahre nicht gesehen hatte, wenn nicht länger. Der eine lebte in Wologda … ein anderer in Jaroslawl … Aber sie hatten sich in den Zug gesetzt und waren nach Moskau gekommen! Um etwas zu verteidigen, das uns allen wichtig war. Am Morgen nahmen wir sie alle mit zu uns nach Hause. Wir duschten, frühstückten und gingen wieder zurück. Am Metro-Ausgang bekam jeder eine Eisenstange oder einen Stein in die Hand gedrückt. »Pflastersteine sind die Waffen des Proletariats«, sagten wir lachend. Wir errichteten Barrikaden. Kippten Trolleybusse um, fällten Bäume.
    Eine Rednertribüne stand schon. Darüber hingen Plakate: »Nein zur Junta!«, »Das Volk ist kein Schmutz, den man mit Füßen tritt«. Die Redner sprachen durch ein Megaphon. Sie begannen alle mit ganz normalen Worten … einfache Menschen wie bekannte Politiker. Doch bald reichten die normalen Worte nicht mehr aus, und dann begannen sie zu fluchen. »Wir werden diese alten Säcke …« Kraftausdrücke! Gute, deftige russische Worte! »Ihre Zeit ist vorbei …« Und weiter ging es mit der großen, mächtigen russischen Sprache! Mat IX als Schlachtruf! Das verstand jeder. Es entsprach dem Augenblick. Momente von solcher Energie! Voller Kraft! Die alten Worte reichten nicht aus, und neue gab es noch nicht. Wir rechneten die ganze Zeit mit dem Sturm auf das Weiße Haus. Eine unglaubliche Stille, besonders nachts. Alle waren schrecklich angespannt. Tausende Menschen – und Stille. Ich erinnere mich an den Geruch nach Benzin, das in Flaschen gefüllt wurde. Es roch nach Krieg …
    Dort standen gute, dort standen wunderbare Menschen! Heute schreiben sie viel von Wodka und von Drogen. Von wegen, was war das schon

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