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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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für eine Revolution? Betrunkene und Drogensüchtige waren auf den Barrikaden. Das ist gelogen! Alle waren ehrlich gekommen, um zu sterben. Wir wussten, dass diese Maschinerie die Menschen zu Staub zermalmte … Niemand glaubte, dass sie so leicht zu zerstören wäre … Ohne großes Blutvergießen … Gerüchte machten die Runde: Die Brücke ist vermint, bald wird Gas eingesetzt. Ein Medizinstudent erklärte, wie man sich bei einem Gasangriff verhalten muss. Die Lage änderte sich alle halbe Stunde. Eine schreckliche Nachricht: Drei Jungs wurden von einem Panzer überrollt. Aber keiner wankte, keiner verließ den Platz. Das hier war so wichtig für dein Leben, egal, was später daraus werden würde. Wie viele Enttäuschungen es auch geben mochte. Aber das haben wir erlebt … So waren wir damals! (Sie weint.) G egen Morgen erscholl es über dem Platz: »Hurra!«Und wieder Flüche … Tränen … Schreie … Von einem zum anderen wurde weitergegeben: Die Armee ist auf die Seite des Volkes übergelaufen, die Alpha-Sondertruppen haben sich geweigert, das Weiße Haus zu stürmen. Die Panzer werden aus der Hauptstadt abgezogen. Und als die Nachricht kam, die Putschisten seien verhaftet, umarmten sich die Leute – so ein Glück war das! Wir hatten gewonnen! Wir hatten unsere Freiheit verteidigt! Zusammen hatten wir es geschafft! Wir können es also! Schmutzig, durchnässt vom Regen, wollten wir lange nicht nach Hause gehen. Wir tauschten unsere Adressen aus. Schworen uns, das nie zu vergessen. Freunde zu bleiben. Die Milizionäre in der Metro waren sehr höflich, nie habe ich so höfliche Milizionäre erlebt, weder davor noch danach.
    Wir hatten gesiegt … Gorbatschow kehrte aus Foros in ein vollkommen anderes Land zurück. Die Menschen liefen durch die Stadt und lächelten einander an. Wir hatten gesiegt! Dieses Gefühl hat mich lange nicht verlassen … Ich lief herum und erinnerte mich … sah die Szenen wieder vor mir … Wie jemand rief: »Panzer! Die Panzer kommen!« Wir fassten uns alle bei den Händen und bildeten eine Kette. Um zwei oder drei Uhr nachts. Der Mann neben mir holte eine Packung Kekse hervor: »Möchten Sie einen Keks?«, und alle nahmen von den Keksen. Ohne jeden Grund lachten wir laut. Wer Kekse will … der will leben! Und ich … bis heute … Ich bin glücklich, dass ich dabei war, mit meinem Mann, mit meinen Freunden. Damals waren wir alle noch sehr aufrichtig. Es ist schade um uns, wie wir damals waren … dass wir nicht mehr so sind. Besonders früher habe ich das bedauert.
     
    Beim Abschied frage ich die beiden, wie sie es geschafft haben, ihre Freundschaft, die, wie ich erfahren hatte, noch vom Studium herrührte, zu bewahren.
     
    Wir haben eine Absprache – diese Themen nicht zu berühren. Einander nicht wehzutun. Eine Zeitlang waren wir zerstritten, hatten die Beziehung abgebrochen. Haben jahrelang nicht miteinander geredet. Aber das ist vorbei.
     
    Jetzt reden wir nur noch über die Kinder, über die Enkel. Was bei uns auf der Datscha wächst.
     
    Wenn unsere Freunde uns besuchen … Auch dann kein Wort über Politik. Jeder ist auf seinem eigenen Weg dahin gekommen. Wir leben Seite an Seite: die Herren und die Genossen … »Rote« und »Weiße«. Aber niemand will mehr schießen. Es ist genug Blut geflossen.
     
     
    II T owarischtsch – die deutsche Übersetzung mit »Genosse« ist zu eng; der ursprüngliche Wortsinn entspricht eher dem deutschen »Kamerad«.
     
    III Sawodskaja, Proletarskaja – Fabrik-, Proletarierstraße.
     
    IV Meschtschanskaja, Kupetscheskaja, Dworjanskaja – Kleinbürger-, Kaufmanns-, Adelsstraße.
     
    V Knjasheskaja – von russ. »knjas« – Fürst.
     
    VI Interdewotschki – »Intermädchen«, Bezeichnung für Russinnen, die im Ausland als Prostituierte arbeiten, nach dem Titel eines Romans von Wladimir Kunin (1988).
     
    VII Chruschtschowkas – in der Chruschtschow-Zeit errichtete billige Neubauten mit meist sehr kleinen Wohnungen, eine Maßnahme, um das Wohnungsproblem der Nachkriegszeit schneller zu lösen.
     
    VIII Komki – russ. »Klumpen«. Slangwort für Verkaufsstände.
     
    IX Mat – vo n »Materstschina«, abgeleitet von dem berühmten »Mutterfluch«; russisches Obszönvokabular.

VON BRÜDERN UND SCHWESTERN, HENKERN UND OPFERN … UND DEM ELEKTORAT
     
Alexander Porfirjewitsch Scharpilo – Rentner, 63 Jahre alt
     
Aus dem Bericht der Nachbarin
Marina Tichonowna Issaitschik
     
    Ihr fremden Leute, was wollt ihr? Dauernd laufen

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