Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
Krieg … Sein Vater ist verschollen, sein Bruder bei den Partisanen umgekommen. Einmal wurden Gefangene nach Brest getrieben – Menschen über Menschen! Sie wurden die Straße entlanggetrieben und wie Pferde im Pferch gehalten, sie starben und lagen herum wie Müll. Den ganzen Sommer lief Saschka herum und suchte mit seiner Mutter nach seinem Vater. Wenn er davon sprach … dann konnte er nicht mehr aufhören … Sie suchten unter den Toten und unter den Lebenden. Niemand hatte mehr Angst vorm Tod, der Tod war etwas Normales geworden. Vor dem Krieg haben wir gesungen: »Von der Taiga bis zum britischen Meer, keiner ist stärker als unser Rotes Heer …« 1 Voller Stolz sangen wir das! Im Frühjahr taute das Eis … brach auf … Der ganze Fluss hinter unserem Dorf war voller Leichen, nackt und schwarz waren sie, nur die Koppel glänzten. Die Koppel mit dem roten Stern.So wie es kein Meer gibt ohne Wasser, so gibt es keinen Krieg ohne Blut. Gott schenkt das Leben, aber im Krieg nimmt es jeder … (Sie weint.) Ich laufe und laufe über den Hof. Gehe herum. Und mir ist, als ob Saschka hinter mir steht … Auch seine Stimme höre ich … Ich drehe mich um – da ist niemand. Also … also … Was hast du angerichtet, Saschka? Eine solche Qual zu wählen! Aber vielleicht ist es so: Er hat hier auf Erden gebrannt, dann wird er vielleicht im Himmel nicht brennen. Hat ausgelitten. Irgendwo werden ja alle unsere Tränen gesammelt … Wie wird man ihn dort empfangen? Krüppel schleppen sich auf der Erde herum, Gelähmte liegen da, Stumme leben. Es ist nicht an uns, zu entscheiden … nicht unser Wille … (Sie bekreuzigt sich.)
Mein Lebtag werde ich den Krieg nicht vergessen … Die Deutschen marschierten ins Dorf ein … Junge, fröhliche Kerle. Und ein Lärm! Sie kamen mit riesigen Autos, und Motorräder hatten sie, mit drei Rädern. Ich hatte zuvor noch nie ein Motorrad gesehen. Die Autos im Kolchos, das waren Anderthalbtonner mit Holzwänden, nicht sehr groß. Aber diese! Wie ein Haus! Dann sah ich ihre Pferde, jedes Pferd wie ein Berg. An die Wand der Schule schrieben sie mit Farbe: »Die Rote Armee hat euch im Stich gelassen!« Dann begann die deutsche Ordnung … Bei uns lebten viele Juden: Awram, Jankel, Morduch … Sie wurden alle zusammengeholt und ins Schtetl gebracht. Sie hatten Kissen und Decken dabei … und wurden gleich alle geschlagen … Sie haben sie aus dem ganzen Kreis zusammengeholt und am selben Tag erschossen. In eine Grube geworfen … Tausende … Tausende Menschen … Es hieß, das Blut sei drei Tage lang nach oben gestiegen … Die Erde hat geatmet … sie war lebendig, die Erde … An der Stelle ist heute ein Park. Ein Erholungsgebiet. Aus einem Sarg dringt keine Stimme. Da schreit niemand … Ja-a … So denke ich … (Sie weint.)
Ich weiß nicht … wie war das? Sind sie ihr selber zugelaufen, oder hat sie sie im Wald gefunden? Unsere Nachbarin, die hat im Schuppen zwei jüdische Jungen versteckt, wunderhübsche Kinder. Kleine Engel! Alle wurden erschossen, aber die beiden haben sich versteckt. Sind weggelaufen. Der eine war acht, der andere zehn. Unsere Mutter brachte ihnen Milch … »Kinder, kein Wort«, bat sie uns. »Zu keinem ein Wort.« In jener Familie lebte ein uralter Großvater, der erinnerte sich noch an den anderen Krieg mit den Deutschen … Den ersten … Er gab den beiden zu essen und weinte: »Ach, Kinder, wenn sie euch fangen, werden sie euch quälen. Wenn ich könnte, würde ich euch lieber selber töten.« Solche Worte … Und der Teufel hört alles … (Sie bekreuzigt sich.) Dann kamen drei Deutsche, auf einem schwarzen Motorrad und mit einem großen schwarzen Hund. Irgendwer hatte sie denunziert … Solche Menschen gibt es immer, sie haben eine schwarze Seele. Sie leben … wie ohne Seele … ihr Herz ist nur ein medizinisches Organ, nicht menschlich. Sie haben mit niemandem Mitleid. Die Jungen liefen aufs Feld … ins Korn … Die Deutschen hetzten den Hund auf sie … Die Leute sammelten sie hinterher stückchenweise auf … fetzenweise … Es gab nichts zu begraben, und es wusste auch keiner ihre Namen. Die Nachbarin banden die Deutschen an ihr Motorrad … sie rannte, bis ihr Herz versagte … (Vor lauter Tränen kann sie lange nicht weitersprechen.) Im Krieg fürchtete der Mensch die Menschen. Die Seinen ebenso wie fremde. Was du am Tag sagst, das hören die Vögel, sagst du es in der Nacht, hören es die Mäuse. Mama brachte uns Gebete bei. Ohne Gott verschlingt
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