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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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… Kulaken und Kulakenknechte … Bei uns im Dorf wurden alle starken Familien entkulakisiert, wer zwei Pferde und zwei Kühe auf dem Hof hatte, der war schon ein Kulak. Nach Sibirien wurden sie geschafft und dort im nackten Taiga-Wald ausgesetzt … Frauen erdrosselten ihre Kinder, damit die nicht leiden mussten. Ach, so viel Kummer … und menschliche Tränen …; die gab es mehr als Wasser auf der Erde. Und dann bat Stalin: »Brüder und Schwestern …« Wir haben ihm geglaubt. Ihm verziehen. Und haben Hitler besiegt! Hitler war gepanzert zu uns gekommen … in Eisenpanzern … Trotzdem haben wir ihn besiegt! Und jetzt – wer bin ich jetzt? Wer sind wir? Das Elektorat … Ich sehe fern. Ich lasse keine Nachrichten aus … Jetzt sind wir das Elektorat. Wir sollen zur Wahl gehen, richtig abstimmen – und basta. Einmal war ich krank und bin nicht zum Wahllokal gegangen, da kamen sie extra hergefahren. Mit einem kleinen roten Kasten. An so einem Tag denken sie an uns … Tja-a-a …
    Wie wir leben, so sterben wir auch … Ich gehe in die Kirche und trage ein Kreuz um den Hals, aber Glück – nein, das kenne ich nach wie vor nicht. Glück habe ich nicht angehäuft. Und nun hilft kein Bitten mehr darum. Bald geht’s ans Sterben … Wenn es nur bald käme, das Himmelreich, ich bin das Dulden leid.Genauso ging es Saschka … Nun liegt er auf dem Friedhof … ruht sich aus … (Sie bekreuzigt sich.) Mit Musik wurde er begraben und mit Tränen. Alle haben geweint. An so einem Tag wird viel geweint. Und bedauert. Aber wozu bereuen? Wer hört das noch nach dem Tod? Was ist geblieben? Zwei kleine Zimmer in der Baracke, ein Beet, rote Urkunden und eine Medaille »Sieger im sozialistischen Wettbewerb«. Ich hab genau so eine Medaille im Schrank liegen. Stachanow-Arbeiterin war ich und Abgeordnete. Zu essen gab es nicht immer genug, aber eine rote Urkunde haben sie dir gegeben. Dich fotografiert. Wir sind drei Familien hier in der Baracke. Beim Einzug waren wir noch ganz jung, wir dachten – das ist nur für ein, zwei Jahre, doch schließlich haben wir das ganze Leben hier gewohnt. In der Baracke werden wir auch sterben. Zwanzig Jahre standen wir auf der Warteliste für eine Wohnung, manche dreißig Jahre … haben gewartet … Und jetzt kommt Gaidar und lacht: Geht und kauft euch eine. Wovon? Unser Geld haben wir verloren … eine Reform, dann noch eine … beraubt haben sie uns! Ein solches Land die Toilette runtergespült! Jede Familie hat zwei winzige Zimmer, einen kleinen Schuppen und ein Beet. Wir sind alle gleich. Das haben wir uns erarbeitet! Das ist unser Reichtum! Das ganze Leben haben wir geglaubt, dass wir eines Tages gut leben würden. Betrug! Ein großer Betrug! Und das Leben … lieber nicht daran denken … Wir haben uns geduldet, gearbeitet und gelitten. Jetzt leben wir nicht mehr, jetzt verbringen wir nur noch unsere Tage.
    Saschka und ich stammen aus demselben Dorf … Von hier … in der Nähe von Brest … Manchmal saßen wir abends auf der Bank und redeten über unsere Erinnerungen. Worüber auch sonst? Er war ein guter Mensch. Getrunken hat er nicht, nein, er war kein Trinker … o nein … obwohl er allein lebte. Was soll ein einsamer Mann tun? Er betrinkt sich – und schläft … betrinkt sich … Ich gehe über den Hof. Laufe herum. Ich gehe herum und denke: Das irdische Leben ist nicht das Ende von allem. Der Tod, das ist für die Seele – Weite … Wo ist er dort? Noch zum Schluss hat er an die Nachbarn gedacht. Hat sie nicht vergessen. Unsere Baracke ist alt, kurz nach dem Krieg gebaut, das Holz ist morsch und hätte sich entzündet wie Papier, wäre im Nu in Flammen aufgegangen. In einem Augenblick! In einer einzigen Sekunde! Wir wären heruntergebrannt bis aufs Gras … bis auf den Sand … Er hat einen Brief an seine Kinder geschrieben: »Zieht meine Enkel groß. Lebt wohl.« Und ihn gut sichtbar hingelegt. Dann ist er in den Garten gegangen … auf sein Beet …
    Oje, oje! Also … also … Der Krankenwagen kam, sie haben ihn auf eine Trage gelegt, aber er will aufstehen, will selber gehen. »Was hast du nur angerichtet, Saschka?« Ich begleitete ihn bis zum Krankenwagen. »Ich bin müde vom Leben. Ruf meinen Sohn an, er soll ins Krankenhaus kommen.« Er hat noch mit mir gesprochen … Sein Jackett war versengt, aber die Schulter war ganz weiß und rein. Fünftausend Rubel hat er hinterlassen … Das war mal viel Geld! Er hat es von seinem Sparbuch abgehoben und auf den Tisch gelegt, neben

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