Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
zurückgetreten oder verhaftet worden war. Ich rief meinen Mann an, er war auf der Datscha. »Wir haben einen Staatsstreich! Die Macht liegt jetzt in den Händen von …« »Dummchen! Leg auf, sonst wirst du gleich abgeholt.« Ich den Fernseher angeschaltet. Auf allen Sendern läuft Schwanensee . Doch ich habe ganz andere Bilder vor Augen, wir sind ja alle Kinder der sowjetischen Propaganda: Santiago in Chile … der brennende Präsidentenpalast … Die Stimme von Salvador Allende … Freunde rufen an: Die Stadt ist voller Militärfahrzeuge, Panzer auf dem Puschkinplatz, auf dem Theaterplatz … Meine Schwiegermutter war gerade bei uns zu Besuch, sie war furchtbar erschrocken. »Geh nicht raus. Ich habe in einer Diktatur gelebt, ich weiß, was das heißt.« Aber ich wollte nicht in einer Diktatur leben!
Am Nachmittag kam mein Mann zurück. Wir saßen in der Küche. Rauchten viel. Wir hatten Angst, dass wir über das Telefon abgehört wurden … Wir legten ein Kissen auf den Apparat … (Sie lacht.) Wir hatten ja genug Dissidentenliteratur gelesen. Und so manches gehört. Das war nun sehr hilfreich … Man hatte uns eine Weile frei atmen lassen, und nun würde man uns die Luft wieder abdrehen. Uns zurück in den Käfig sperren, uns wieder einbetonieren … Dass wir uns fühlten wie Schmetterlinge in Zement … Wir dachten an die jüngsten Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz. Daran, wie in Tbilissi Demonstranten mit Pionierspaten auseinandergejagt worden waren. An den Sturm auf das Fernsehzentrum in Vilnius … »Während wir Schalamow und Platonow gelesen haben«, sagte mein Mann, »ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen. Früher haben wir in den Küchen debattiert und Kundgebungen besucht, jetzt werden wir aufeinander schießen.« Die Stimmung war so … als stünde etwas Katastrophales unmittelbar bevor … Das Radio lief ununterbrochen. So viel wir auch suchten – überall nur Musik. Klassische Musik. Endlich, ein Wunder! Radio Rossija sendete: »… der rechtmäßig gewählte Präsident entmachtet … Ein zynischer Umsturzversuch …« So erfuhren wir, dass Tausende Menschen bereits auf der Straße waren. Gorbatschow war in Gefahr … Hingehen oder nicht, das war für uns keine Frage. Wir gehen! Meine Schwiegermutter versuchte erst, mich davon abzubringen: Denk an dein Kind, du bist verrückt, was willst du da? Ich schwieg. Als sie sah, dass wir tatsächlich loswollten, sagte sie: »Also, wenn ihr wirklich solche Idioten seid, dann nehmt wenigstens Sodalösung mit, damit tränkt ihr Mulltücher und legt sie euch aufs Gesicht, wenn sie Gas einsetzen.« Ich füllte ein Dreiliterglas mit dieser Lösung und riss ein Laken in Streifen. Außerdem nahmen wir alles Essen mit, das wir im Haus hatten, ich holte sämtliche Konserven aus dem Büfett.
Viele Menschen waren wie wir unterwegs zur Metro … Aber manche standen auch Schlange nach Eis. Oder kauften Blumen. Wir kamen an einer fröhlichen Gruppe vorbei … Ich hörte jemanden sagen: »Wenn ich morgen wegen der Panzer nicht zum Konzert kann, das verzeihe ich denen nie.« Ein Mann in kurzen Hosen mit einem Netz in der Hand kam uns entgegengerannt, in dem Netz waren leere Flaschen. Als wir auf gleicher Höhe waren, fragte er: »Sagen Sie, die Stroítelnaja, wo ist die?« Ich zeigte ihm, wo er rechts abbiegen musste, dann geradeaus. Und er – danke schön. Er pfiff auf alles, Hauptsache, er konnte seine Flaschen abgeben. Aber war das 1917 etwa anders gewesen? Die einen schossen, andere tanzten auf Bällen … Lenin auf einem Panzerwagen …
Jelena Jurjewna
Eine Farce! Das Ganze war eine Farce! Hätte das GKTs chP gesiegt, würden wir heute in einem anderen Land leben. Wenn Gorbatschow nicht so feige gewesen wäre … Dann wären die Löhne nicht in Reifen und Puppen ausgezahlt worden. In Shampoo. Oder wenn ein Betrieb Nägel herstellte, in Nägeln. Wenn er Seife herstellte, in Seife. Ich sage zu jedem: Schaut euch die Chinesen an … Sie gehen ihren eigenen Weg. Sie sind von niemandem abhängig, ahmen niemanden nach. Und die ganze Welt hat heute Angst vor den Chinesen … (Wieder wendet sie sich an mich.) Ich bin sicher, Sie werden meine Worte streichen.
Ich verspreche, dass es zwei Geschichten sein werden. Ich möchte ein nüchterner Historiker sein, kein Historiker mit brennender Fackel. Mag die Zeit der Richter sein. Die Zeit ist gerecht, aber die weit entfernte Zeit, nicht die nahe. Die Zeit, die wir nicht mehr erleben werden. Die Zeit ohne unsere
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