Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
…« Wenn ihn jemand denunziert hätte, wäre er auch vor Gericht gestellt worden. Nach 1953 wurde man für Verspätungen nicht mehr bestraft. Nach Stalins Tod begannen die Menschen zu lächeln, vorher waren sie ständig auf der Hut gewesen. Ein Leben ohne Lächeln.
Ach … wozu jetzt noch daran denken? Die Nägel von der Brandstätte aufsammeln? Alles ist verbrannt! Unser ganzes Leben … Alles, was unser war, ist dahin … Wir haben aufgebaut und aufgebaut … Saschka war auf dem Neuland … Den Kommunismus aufbauen! Die lichte Zukunft. Er hat erzählt, sie hätten im Winter in Zelten geschlafen, ohne Schlafsäcke. In ihren Kleidern. Die Hände hat er sich dort erfroren … Aber er war trotzdem stolz! »Lang sind die Wege übers Land, die Zukunft liegt in unsrer Hand …« 2 Er hatte ein Parteibuch, das rote Büchlein mit Lenin drauf, das war ihm teuer. Er war Abgeordneter und Stachanow-Arbeiter, genau wie ich. Das Leben ist vergangen, verflogen. Keine Spur ist davon geblieben … nichts … Gestern habe ich drei Stunden nach Milch angestanden – und als ich dran war, war sie alle. Vor einer Weile hat man mir ein deutsches Paket ins Haus gebracht, mit Geschenken: Grieß, Schokolade, Seife … Von den Besiegten für die Sieger. Ich brauche keine deutschen Pakete. Nein, nein … Ich habe es nicht genommen … (Sie bekreuzigt sich.) Die Deutschen mit den Hunden … das Fell der Hunde glänzte … Sie liefen durch den Wald, und wir saßen im Moor. Bis zum Hals im Wasser. Frauen, Kinder. Auch die Kühe zusammen mit den Menschen. Alle schwiegen. Auch die Kühe, sie schwiegen genau wie die Menschen. Verstanden alles. Nein, ich will keine deutschen Süßigkeiten und keine deutschen Kekse! Wo ist das, was mir zusteht? Für meine Arbeit? Wir haben so sehr geglaubt! Geglaubt, dass eines Tages ein gutes Leben kommen würde. Warte, hab Geduld … ja, warte, hab Geduld … Das ganze Leben in Kasernen, in Wohnheimen, in Baracken.
Nun, was kann man da machen? Sei’s drum … Alles kann man überleben, bis auf den Tod. Den Tod kann man nicht überleben … Dreißig Jahre lang hat Saschka in der Möbelfabrik gearbeitet. Sich krumm geschuftet. Vor einem Jahr haben sie ihn in Rente geschickt. Eine Uhr haben sie ihm geschenkt. Aber er blieb nicht ohne Arbeit. Die Leute kamen mit Aufträgen zu ihm. Tjaa … Trotzdem war er nicht froh. Ganz bedrückt war er. Hat sich nicht mehr rasiert. Dreißig Jahre in einer Fabrik, im Grunde das halbe Leben! Das ist wie ein Zuhause. Von der Fabrik haben sie auch den Sarg für ihn gebracht. Einen prächtigen Sarg! Geglänzt hat er, und innen war Samt. In solchen Särgen werden heutzutage nur Banditen und Generäle begraben. Alle wollten ihn anfassen – ein Schmuckstück! Als sie den Sarg aus der Baracke trugen, wurde Korn auf die Schwelle gestreut. Das macht man, damit das Zurückbleiben für die Lebenden leichter ist. Ein alter Brauch bei uns … Sie stellten den Sarg auf den Hof … Einer der Verwandten sagte: »Gute Menschen, vergebt.« »Gott wird vergeben«, antworteten alle. Aber was denn vergeben? Wir haben einträchtig gelebt, wie eine Familie. Was dir fehlt, gebe ich dir, wenn mir etwas fehlt, bringst du es mir. Wir haben unsere Feiertage geliebt. Wir haben den Sozialismus aufgebaut, und nun sagen sie im Radio, dass der Sozialismus zu Ende ist. Aber wir … wir sind noch da …
Die Züge rattern … und rattern … Fremde Menschen, was wollt ihr? Was? Kein Tod gleicht dem anderen … Ich habe meinen ersten Sohn in Sibirien geboren, dann kam die Diphtherie, und hopp! ist er erstickt. Trotzdem lebe ich weiter. Gestern war ich an Saschkas Grab, hab eine Weile bei ihm gesessen. Ihm erzählt, wie Liska geweint hat. Und mit dem Kopf auf den Sarg gehämmert. Die Liebe zählt die Jahre nicht …
Wir werden sterben … und dann wird alles gut …
X Bitter! – Mit diesem Ruf wird das Brautpaar aufgefordert, sich zu küssen, um das Hochzeitsmahl zu versüßen.
XI Kascha – Brei, Grütze, meist Buchweizen.
XII Banja – russisches Dampfbad.
VON EINEM EINSAMEN ROTEN MARSCHALL
UND DREI TAGEN EINER VERGESSENEN REVOLUTION
Sergej Fjodorowitsch Achromejew (1923–1991),
Marschall der Sowjetunion, Held der Sowjetunion (1982).
Chef des Generalstabs der Streitkräfte der UdSSR (1984–1988).
Träger des Leninpreises (1980). Ab 1990 militärischer Berater des Präsidenten der UdSSR .
Aus Interviews auf dem Roten Platz
(Dezember 1991)
»Ich war Studentin …
Das Ganze ging
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