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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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verteidigt ihr? Die Kapitalisten?‹ ›Nicht doch, Oma! Wir stehen hier für die Freiheit.‹ ›Und ich habe für die Sowjetmacht gekämpft – für die Arbeiter und Bauern. Nicht für Krämerstände und Kooperativen. Wenn man mir jetzt eine Maschinenpistole geben würde …‹
    Alles hing an einem seidenen Faden. Es roch nach Blut. Ein Fest war das in meiner Erinnerung nicht …«
     
    »Ich bin Patriot …
    Lassen Sie mich was sagen … (Ein Mann in offenem Lammfellmantel mit einem massiven Kreuz auf der Brust tritt zu mir.) Wir erleben gerade die schändlichste Zeit unserer Geschichte. Wir sind eine Generation von Feiglingen und Verrätern. So wird das Urteil unserer Kinder lauten. ›Ein großes Land haben unsere Eltern verkauft, für Jeans, für Marlboro und Kaugummi‹, werden sie sagen. Wir haben es nicht geschafft, die UdSSR zu verteidigen – unsere Heimat. Ein schreckliches Verbrechen. Alles haben wir verkauft!! Ich werde mich nie an die russische Trikolore gewöhnen, ich werde immer die rote Fahne vor Augen haben. Die Fahne eines großen Landes! Eines großen Sieges! Was muss man mit uns gemacht haben … mit den sowjetischen Menschen … dass wir die Augen verschlossen haben und in dieses beschissene kapitalistische Paradies gerannt sind? Sie haben uns gekauft mit bunten Verpackungen, mit Wursttheken und grellen Etiketten. Haben uns geblendet und vollgequatscht. Wir haben alles hergegeben für Karren und Klamotten. Und erzählt mir keine Märchen … von wegen, die CIA hätte die Sowjetunion gestürzt, die Intrigen von Brzeziński 2 … Und wieso hat der KGB nicht Amerika gestürzt? Nicht ›die blöden Kommunisten haben das Land in die Scheiße geritten‹, und nicht ›die Scheißintelligenzler haben es vernichtet, damit sie ins Ausland fahren und Archipel Gulag lesen können‹ … Und suchen Sie auch nicht nach einer › jüdisch-freimaurerischen Verschwörung‹ … Wir selbst haben alles zerstört … Mit unseren eigenen Händen. Wir haben davon geträumt, dass es auch bei uns McDonald’s mit heißen Hamburgern gibt, dass jeder sich einen Mercedes kaufen kann und ein Plastik-Videogerät, dass man am Kiosk Pornofilme bekommt …
    Russland braucht eine starke Hand. Eine eiserne Hand. Einen Aufseher mit Knüppel. Also – den großen Stalin! Hurra! Hurra!Achromejew hätte unser Pinochet werden können … unser General Jaruzelski … Ein großer Verlust …«
     
    »Ich bin Kommunist …
    Ich war für das GKTs chP , besser gesagt, für die UdSSR . Ich war ein leidenschaftlicher GKT schP ist, denn ich habe gern in einem Imperium gelebt. ›Vom Amur bis fern zum Donaustrande …‹ 3 1989 wurde ich auf eine Dienstreise nach Vilnius geschickt. Vor der Abreise rief mich der Chefingenieur unseres Betriebes zu sich (er war schon dort gewesen) und warnte mich: ›Sprich dort nicht russisch. Sie verkaufen dir nicht mal Streichhölzer, wenn du russisch sprichst. Hast du dein Ukrainisch noch parat? Rede ukrainisch.‹ Ich habe ihm nicht geglaubt – was sollte der Unsinn? Doch er: ›Sei in der Kantine vorsichtig – sie könnten dich vergiften oder dir Glassplitter ins Essen streuen. Du bist für die dort jetzt ein Besatzer, klar?‹ Ich aber hatte noch die Völkerfreundschaft im Kopf und all das. Die sowjetische Brüderlichkeit. Ich habe es nicht geglaubt, bis ich auf dem Bahnhof von Vilnius ankam. Ich stieg auf dem Bahnsteig aus … Vom ersten Augenblick an, als ich russisch sprach, gab man mir zu verstehen, dass ich in ein fremdes Land gekommen sei. Ich war ein Besatzer. Aus dem schmutzigen, rückständigen Russland. Ein russischer Iwan. Ein Barbar.
    Und dann dieser Tanz der kleinen Schwäne 4 … Also, vom GKT schP habe ich am Morgen beim Einkaufen gehört. Ich bin nach Hause gelaufen, habe den Fernseher eingeschaltet: Wurde Jelzin getötet oder nicht? In wessen Hand ist das Fernsehzentrum? Wer hat das Kommando über die Armee? Ein Bekannter rief an: ›Ach, diese Hunde, jetzt werden sie wieder die Schrauben anziehen. Dann werden wir alle wieder Schräubchen und Rädchen.‹ Ich wurde wütend: ›Ich bin mit beiden Händen dafür. Ich bin für die UdSSR !‹ Augenblicklich machte er eine Kehrtwendung um hundertachtzig Grad: ›Das ist das Aus für Michail mit dem Feuermal! Jetzt kann er in Sibirien schuften!‹ Verstehen Sie? Man hätte mit den Leuten reden müssen. Sie beeinflussen. Bearbeiten. Man hätte als Erstes Ostankino besetzen müssen und rund um die Uhr verkünden: Wir werden das Land retten!

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