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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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sehr schnell … Nach drei Tagen war die Revolution vorbei … Im Fernsehen hieß es in den Nachrichten: Die Mitglieder des GKT schP verhaftet … Innenminister Pugo hat sich erschossen, Marschall Achromejew hat sich aufgehängt … In unserer Familie wurde darüber lange gesprochen. Ich weiß noch, mein Vater sagte: ›Das sind Kriegsverbrecher. Sie müsste das gleiche Schicksal treffen wie die deutschen Generale Speer und Hess.‹ Alle warteten auf ein Nürnberg …
    Wir waren jung … Revolution! Ich war plötzlich stolz auf mein Land, als die Menschen gegen die Panzer auf die Straße gingen. Davor hatte es schon die Ereignisse in Vilnius, Riga und Tbilissi gegeben. In Vilnius hatten die Litauer ihr Fernsehzentrum verteidigt, das hatten wir alle gesehen, und wir – waren wir etwa stumpfe Kreaturen?Auf die Straße gingen plötzlich Menschen, die früher nie irgendwohin gegangen waren – sie hatten nur in ihren Küchen gesessen und sich aufgeregt. Doch nun gingen sie auf die Straße … Meine Freundin und ich nahmen jede einen Schirm mit, gegen den Regen und zum Prügeln. (Sie lacht.) Ich war stolz auf Jelzin, als er auf dem Panzer stand, ich begriff: Das ist mein Präsident! Meiner! Ein richtiger Präsident! Dort waren viele junge Leute. Studenten. Wir alle waren mit dem Ogonjok von Korotitsch 1 aufgewachsen, mit den Sechzigern. Es herrschte eine Art Kriegszustand … Jemand brüllte in ein Megaphon, flehte, eine Männerstimme: ›Mädchen, geht weg. Es wird eine Schießerei geben und viele Tote.‹ Neben mir schickte ein junger Mann seine schwangere Frau nach Hause, und sie weinte. ›Warum bleibst du hier?‹ ›Es muss sein.‹
    Ich habe noch etwas sehr Wichtiges ausgelassen … Wie dieser Tag begonnen hatte … Am Morgen war ich vom lauten Weinen meiner Mutter aufgewacht. Sie schluchzte. Sie fragte meinen Vater: ›Was bedeutet Ausnahmezustand? Was meinst du, was haben sie mit Gorbatschow gemacht?‹ Und Großmutter lief zwischen dem Fernseher und dem Küchenradio hin und her: ›Ist schon jemand verhaftet worden? Erschossen?‹ Großmutter ist 1922 geboren, ihr Leben lang war geschossen, waren Menschen erschossen worden. Verhaftet. So war ihr Leben verlaufen …Nach Großmutters Tod hat Mutter mir ein Familiengeheimnis offenbart. Den Vorhang gelüftet … diesen Vorhang … 1956 hatte man Großmutter ihren Mann, Mutters Vater, aus dem Lager zurückgebracht – er war nur noch Haut und Knochen. Er kam aus Kasachstan. Mit einem Begleiter, so krank war er. Und sie verrieten niemandem, dass er ihr Mann war … der Vater … Aus Angst … Sie sagten, er sei nur ein entfernter Verwandter. Er lebte einige Monate bei ihnen, dann musste er ins Krankenhaus. Dort erhängte er sich. Ich muss … Jetzt muss ich damit irgendwie leben, mit diesem Wissen. Ich muss es verstehen … (Sie wiederholt:) Irgendwie damit leben … Am meisten Angst hatte Großmutter vor einem neuen Stalin und vor Krieg, ihr Leben lang rechnete sie mit Verhaftung und Hunger. Sie zog in Kästen auf dem Fensterbrett Zwiebeln und legte immer große Töpfe Sauerkraut ein. Kaufte Zucker und Butter auf Vorrat. Unser Hängeboden war voll mit Vorräten. Graupen. Sie schärfte mir immer ein: ›Halt immer schön den Mund‹ In der Schule … an der Universität … So bin ich aufgewachsen, unter solchen Menschen. Wir hatten keinen Grund, die Sowjetmacht zu lieben. Wir sind alle für Jelzin! Meine Freundin dagegen wurde von ihrer Mutter nicht aus dem Haus gelassen: ›Nur über meine Leiche! Begreifst du denn nicht, dass alles wieder zurückgekommen ist?‹ Wir studierten an der Patrice-Lumumba-Universität der Völkerfreundschaft. Dort gab es Studenten aus der ganzen Welt, viele von ihnen waren mit der Vorstellung gekommen, die UdSSR , das wäre das Land der Balalaikas und der Atombomben. Das kränkte uns. Wir wollten in einem anderen Land leben …«
     
    »Ich war Schlosser in einem Betrieb …
    Vom Putsch habe ich im Gebiet Woronesch erfahren … Ich war zu Besuch bei meiner Tante. Das ganze Geschrei von der Größe Russlands – das ist totaler Scheiß. Kostümierte Patrioten! Sitzen vor der Zombiekiste. Die sollten mal fünfzig Kilometer aus Moskau rausfahren … Sich die Häuser ansehen, sich ansehen, wie die Leute da leben. Wie sie sich an Feiertagen besaufen … Auf dem Land gibt’s kaum noch Männer. Die sind ausgestorben. Ein Bewusstsein wie Hornvieh – saufen sich zu Tode. Bis sie umkippen. Sie trinken alles, was Prozente hat: von Gurkenlotion

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