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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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bis zu Benzin. Erst saufen sie, dann prügeln sie sich. In jeder Familie hat irgendwer schon mal im Gefängnis gesessen oder sitzt gerade. Die Miliz ist machtlos. Nur die Frauen geben nicht auf, die buddeln weiter in ihrem Gemüsegarten. Wenn irgendwo noch ein paar Männer übrig geblieben sind, die nicht trinken, dann sind die weg nach Moskau, Geld verdienen. Dem einzigen Farmer (in dem Dorf, wo ich immer hinfahre), dem haben sie dreimal den ›roten Hahn‹ aufs Dach gesetzt, bis er abgehauen ist! Weg von da! Aus den Augen! Sie haben ihn echt gehasst … richtig physisch gehasst …
    Die Panzer in Moskau … die Barrikaden … Auf dem Land hat sich keiner groß darum geschert. Oder aufgeregt. Da hatten die Leute andere Sorgen – den Kartoffelkäfer und die Kohlmotte. Ein zäher Bursche, dieser Kartoffelkäfer … Und die jungen Männer, die haben sowieso nur Sonnenblumenkerne und Mädchen im Kopf. Und wo sie am Abend einen zur Brust nehmen können. Aber das Volk war trotzdem in seiner Mehrheit für das GKT schP . So kam es mir jedenfalls vor … Nicht alle waren Kommunisten, aber alle waren für das große Land. Sie hatten Angst vor Veränderungen, denn bei allen Veränderungen war der Bauer am Ende immer der Dumme gewesen. Ich weiß noch, wie unser Großvater oft sagte: ›Früher haben wir beschissen gelebt, ganz beschissen, und dann wurde es immer schlimmer und schlimmer.‹ Bis zum Krieg und nach dem Krieg besaßen sie keinen Ausweis. Die Leute auf dem Land bekamen keinen Ausweis, sie durften nicht weggehen in die Stadt. Sie waren Sklaven. Gefangene. Aus dem Krieg kamen sie mit Orden zurück. Halb Europa hatten sie erobert! Aber sie bekamen noch immer keinen Ausweis.
    In Moskau habe ich erfahren, dass alle meine Freunde auf den Barrikaden waren. Dass sie mitgemacht haben bei dem Ganzen. (Er lacht.) Auch ich hätte eine Medaille kriegen können …«
     
    »Ich bin Ingenieur …
    Wer war dieser Marschall Achromejew? Ein Sowok-Fanatiker. Ich habe in der Sowok gelebt, ich will nicht dahin zurück. Er aber war ein Fanatiker, der kommunistischen Idee aufrichtig ergeben. Das war mein Feind. Er weckte in mir Hass, wenn ich ihn reden hörte. Ich wusste: Dieser Mann wird kämpfen bis zum Schluss. Sein Selbstmord? Klar, das ist eine außergewöhnliche Tat, und die verdient Respekt. Vor dem Tod muss man Achtung haben. Aber ich frage mich: Und wenn sie gesiegt hätten? Nehmen Sie jedes beliebige Lehrbuch … Kein einziger Umsturz in der Geschichte ist ohne Terror ausgekommen, alles endete unweigerlich mit Blutvergießen. Mit dem Herausreißen von Zungen und dem Ausstechen von Augen. Mit Mittelalter. Da muss man kein Historiker sein …
    Am Morgen hörte ich im Fernsehen, Gorbatschow sei ›wegen schwerer Krankheit außerstande, das Land zu regieren‹, und als ich aus dem Fenster schaute, waren da Panzer … Ich meine Freunde angerufen – alle waren für Jelzin. Gegen die Junta. Wir werden Jelzin verteidigen! Ich hab den Kühlschrank aufgemacht und mir ein Stück Käse in die Tasche gesteckt. Auf dem Tisch lagen Kringel – die hab ich auch eingesammelt. Und eine Waffe? Ich musste doch irgendetwas mitnehmen … Auf dem Tisch lag ein Küchenmesser … ich nahm es in die Hand und legte es wieder zurück. (Er wird nachdenklich.) Und wenn … wenn sie gesiegt hätten?
    Jetzt zeigen sie im Fernsehen schöne Bilder: Maestro Rostropowitsch ist aus Paris gekommen und sitzt mit einer Maschinenpistole da, junge Mädchen bringen den Soldaten Eis … Ein Blumenstrauß auf einem Panzer … Meine Bilder sehen anders aus … Moskauer Omas bringen den Soldaten belegte Brote und nehmen die jungen Männer mit zu sich nach Hause, zum Pinkeln. Eine ganze Panzerdivision haben sie nach Moskau geschickt – ohne jeden Proviant, ohne Toiletten. Aus den Panzerluken schauen die dünnen Hälse der Jungs und riesengroße! erschrockene Augen. Sie kapieren rein gar nichts. Sie sitzen schon den dritten Tag in ihrem Panzer – wütend und hungrig. Unausgeschlafen. Frauen umringen sie: ›Söhnchen, werdet ihr auf uns schießen?‹ Die Soldaten schweigen, doch ein Offizier brüllt: ›Wenn man es uns befielt, werden wir schießen.‹ Die Soldaten verschwinden blitzschnell in ihrer Luke. So war das! Meine Bilder sehen anders aus als eure … Wir stehen in der Menschenkette, warten auf den Angriff. Gerüchte: Bald werden sie Gas einsetzen, auf den Dächern sitzen Scharfschützen … Eine Frau kommt zu uns, mit Ordensbändern an der Jacke … ›Wen

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