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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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irgendwas. Nicht an den Hausgeist und nicht an den Kommunismus. Die Menschen leben ohne jeden Glauben! Na, vielleicht glauben sie noch an die Liebe … »Bitter! Bitter!« X , haben wir an Saschkas Hochzeitstafel gerufen. Und wie haben wir damals getrunken? Eine Flasche für den ganzen Tisch … für zehn Leute … Heute musst du für jeden eine Flasche hinstellen. Die Kuh musst du verkaufen, um Sohn oder Tochter zu verheiraten. Er hat sie geliebt, die Liska … Aber wen du mit dem Herzen nicht lockst, den bindest du auch mit Gewalt nicht. Also … also … Sie trieb sich herum, wie eine Katze. Als die Kinder groß waren, hat sie ihn endgültig verlassen. Ohne sich umzusehen. Ich hab ihm oft geraten: »Saschka, such dir eine gute Frau. Sonst wirst du noch zum Trinker.« »Ich gieß mir ein Gläschen ein … Schaue Eiskunstlaufen und leg mich schlafen.« Wer allein schläft, den wärmt auch die Decke nicht … Selbst im Paradies ist es öde allein. Er trank, aber nie zu viel. Nein … nicht wie andere. Oh! Ein Nachbar hier bei uns … der trinkt Eau de Cologne, Rasierwasser, vergällten Spiritus und Putzmittel. Eine Flasche Wodka kostet heute so viel wie früher ein Mantel. Und der Imbiss dazu? Ein halbes Kilo Wurst, das ist die Hälfte meiner Rente. Trinkt doch die Freiheit! Esst die Freiheit! Ein solches Land haben sie aufgegeben! Eine Macht! Ohne einen einzigen Schuss … Eines verstehe ich nicht – warum hat uns keiner gefragt? Ich habe mein ganzes Leben für den Aufbau eines großen Landes gearbeitet. So hat man es uns gesagt. Hat es uns versprochen.
    Ich habe Bäume gefällt und Bahnschwellen geschleppt … Ich bin mit meinem Mann nach Sibirien gegangen. Auf eine kommunistische Baustelle. Ich erinnere mich an die Flüsse: Jenissej, Birjussa, Mana … Wir bauten die Bahnlinie Abakan–Taischet. In Güterwaggons wurden wir dorthin gebracht: Roh zusammengezimmerte Doppelstockliegen, keine Matratzen, keine Bettwäsche, unterm Kopf die eigene Faust. Im Fußboden ein Loch … Für die große Notdurft ein Eimer (wir hielten ein Laken davor). Wenn der Zug auf freier Strecke hielt, rafften wir Heu zusammen: Das war unser Bett! Licht gab es im Waggon nicht. Aber wir sangen die ganze Fahrt über Komsomollieder! Bis wir heiser waren. Sieben Tage fuhren wir … Dann waren wir endlich da! Rundum dichte Taiga, mannshoher Schnee. Bald bekamen wir Skorbut, jeder Zahn wackelte. Läuse. Aber die Norm – oho! Die Männer, die was vom Jagen verstanden, gingen auf Bären. So kriegten wir auch mal Fleisch in den Topf, sonst gab es immer nur Kascha, nichts als Kascha XI . Ich weiß noch, dass man bei einem Bären nur aufs Auge zielt. Wir wohnten in Baracken … keine Dusche, keine Banja XII … Im Sommer fuhren wir in die Stadt und wuschen uns im Springbrunnen. (Sie lacht.) Wenn du noch mehr hören willst, rede ich weiter …
    Ich habe noch gar nicht erzählt, wie ich geheiratet habe … Ich war achtzehn. Da arbeitete ich schon in der Ziegelei. Das Zementwerk war geschlossen worden, und ich war in die Ziegelei gegangen. Zuerst arbeitete ich in der Lehmaufbereitung. Damals wurde der Lehm mit der Hand gewendet … mit Schaufeln … Wir entluden die Laster und breiteten den Lehm auf dem Hof zu einer gleichmäßigen Schicht aus, damit er »reifte«. Nach einem halben Jahr schob ich schon beladene Loren von der Presse zum Ofen: hin mit rohen Ziegeln, zurück mit gebrannten, heißen. Die Ziegel holten wir selbst aus dem Ofen … Eine irrsinnige Hitze! In einer Schicht holst du vier- bis sechstausend Ziegel raus. Bis zu zwanzig Tonnen. Dort arbeiteten nur Frauen … und Mädchen … Es gab auch ein paar junge Männer, aber die saßen meist am Steuer, fuhren die Laster. Einer fing an, mir den Hof zu machen … Kommt zu mir, lacht und legt mir die Hand auf die Schulter … Einmal fragt er: »Kommst du mit mir mit?« »Ja.« Ich habe nicht einmal gefragt, wohin. So ließen wir uns nach Sibirien anwerben … Den Kommunismus aufbauen! (Sie schweigt.) Und jetzt … ach! Also … also … Alles umsonst … wir haben uns vergebens gequält … Das ist schwer einzugestehen … und es ist schwer, damit zu leben … Wir haben so viel gearbeitet! Aufgebaut. Alles mit den Händen. Eine harte Zeit! Als ich in der Ziegelei arbeitete … da habe ich einmal verschlafen. Nach dem Krieg, wenn man da zu spät zur Arbeit kam … zehn Minuten zu spät, das bedeutete Gefängnis … Der Brigadier hat mich gerettet: »Sag, ich hätte dich zur Lehmgrube geschickt

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