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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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dich sogar ein Wurm.
    Am 9. Mai … an unserem Feiertag … Da tranken Saschka und ich immer ein Gläschen … weinten ein bisschen … Es ist schwer, die Tränen runterzuschlucken … Also … also … Mit zehn Jahren musste er in der Familie den Vater und den Bruder ersetzen. Und ich, als der Krieg aus war, da war ich sechzehn. Ich ging ins Zementwerk arbeiten. Ich musste meine Mutter unterstützen. Wir schleppten Zementsäcke von fünfzig Kilo, beluden LKW mit Sand, Splitt und Armiereisen. Aber ich wollte studieren … Mit einer Kuh haben wir geeggt und gepflügt … Die Kuh heulte bei dieser Arbeit … Und was wir aßen! Was wir aßen! Wir zerstampften Eicheln, sammelten im Wald Kiefernzapfen. Trotzdem habe ich geträumt … Den ganzen Krieg lang träumte ich: Wenn ich mit der Schule fertig bin, werde ich Lehrerin. Der letzte Kriegstag … Es war ganz warm … Mama und ich gingen aufs Feld … Auf einem Kavalleriepferd kam ein Milizionär angeritten: »Sieg! Die Deutschen haben die Kapitulation unterzeichnet!« Er ritt über die Felder und rief allen zu: »Sieg! Sieg!« Die Leute liefen ins Dorf … Schrien, weinten, fluchten. Am meisten wurde geweint. Doch am nächsten Tag begann das Nachdenken: Wie weiter? Die Hütten waren leergefegt, durch die Scheunen pfiff der Wind. Trinkbecher machten wir aus alten Konservendosen … die Dosen waren noch von den Deutschen geblieben … Kerzen aus leeren Patronenhülsen. Salz kannten wir im Krieg gar nicht mehr, unsere Knochen waren ganz weich geworden. Die Deutschen hatten beim Abzug unseren Eber mitgenommen und die letzten Hühner eingefangen. Und davor hatten die Partisanen eines Nachts die Kuh weggeholt … Mama wollte die Kuh nicht hergeben, da schoss ein Partisan nach oben. Ins Dach. Sie packten auch die Nähmaschine in einen Sack und Mamas Kleider. Waren das Partisanen – oder Banditen? Sie hatten Waffen … Also … also … Der Mensch will immer leben, auch im Krieg. Im Krieg erfährt man vieles … Kein Tier ist schlimmer als der Mensch. Der Mensch ist es, der den Menschen tötet, nicht die Kugel. Der Mensch den Menschen … Ach, meine Liebe!
    Meine Mutter holte eine Wahrsagerin … Die Wahrsagerin prophezeite: »Alles wird gut.« Und wir hatten nichts, was wir ihr geben konnten. Mama fand im Keller zwei Rüben und freute sich. Auch die Wahrsagerin freute sich. Ich fuhr zur Aufnahmeprüfung, wie ich es mir erträumt hatte, an die pädagogische Fachschule. Dort musste ich einen Fragebogen ausfüllen … Ich schrieb und kam zu der Frage: Waren Sie oder Ihre Eltern in Gefangenschaft oder auf besetztem Gebiet? Ich antwortete, ja, natürlich, das waren wir. Der Direktor der Fachschule rief mich in sein Büro: »Mädchen, nimm deine Papiere zurück.« Er war Frontsoldat gewesen, ihm fehlte ein Arm. Da baumelte ein leerer Ärmel. So erfuhr ich, dass wir … alle, die in besetztem Gebiet gelebt hatten … dass wir als unzuverlässig galten. Unter Verdacht standen. Keiner sagte mehr »Brüder und Schwestern« … Erst vierzig Jahre später wurde dieser Fragebogen abgeschafft. Vierzig Jahre! Darüber ist mein Leben vergangen, bis er abgeschafft wurde. »Wer hat uns denn unter den Deutschen gelassen?« »Sei still, Mädchen, sei still …« Der Direktor schloss die Tür, damit uns niemand hörte. »Sei still … sei still …« Wie kann man seinem Schicksal entgehen? Wasser mit einer Sense schneiden … Saschka hat sich an einer Militärschule beworben … Er hat in den Fragebogen geschrieben, dass seine Familie unter der Besatzung gelebt hatte und dass sein Vater verschollen war. Er wurde sofort weggeschickt … (Sie schweigt.) Es macht doch nichts, dass ich Ihnen auch von mir, dass ich mein Leben erzähle? Wir haben alle gleich gelebt. Dass man mich bloß nicht einsperrt für dieses Gespräch. Gibt es die Sowjetmacht noch, oder ist sie ganz und gar weg?
    Über dem Kummer habe ich das Gute ganz vergessen … Von unserer Jugend und der Liebe. Ich war auf Saschkas Hochzeit … Er liebte Liska, hat lange um sie geworben. Verzehrt hat er sich nach ihr! Einen weißen Schleier hat er ihr aus Minsk mitgebracht. Auf den Armen hat er die Braut in die Baracke getragen … Ein alter Brauch bei uns … Der Bräutigam trägt die Braut auf dem Arm, wie ein Kind, damit der Hausgeist sie nicht erwischt. Sie nicht bemerkt. Der Hausgeist mag keine Fremden, die vertreibt er. Er ist schließlich der Herr im Haus, man muss ihm gefallen. Ach … (Sie winkt ab.) Jetzt glaubt keiner mehr an

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