Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
wurde und getötet. Es ist viel Blut geflossen … unseres und fremdes … »Aus Liebe gibt er hin sein Leben; Ruhm krönt sein makelloses Streben, belohnt und überdauert ihn.« 2 »Niemals wird lieben lernen jenes Herz, das schon zu müde ist, um noch zu hassen …« 3 (Erstaunt.) Ich erinnere mich noch … habe nichts vergessen! Die Sklerose hat nicht alles aus meinem Gedächtnis getilgt. Nicht endgültig. Diese Gedichte haben wir im Politunterricht gelernt … Wie viele Jahre ist das jetzt her? Das wage ich gar nicht zu sagen …
Warum bin ich so erschüttert? So niedergeschlagen? Die Idee ist niedergetrampelt worden! Der Kommunismus verfemt! Alles ist zertrümmert! Ich bin ein seniler alter Mann. Ein blutrünstiger Irrer … ein Massenmörder … So ist es doch, oder? Ich lebe schon zu lange, so lange sollte man nicht leben. Nein … nein, das sollte man nicht … Es ist gefährlich, lange zu leben. Meine Zeit war eher zu Ende als mein Leben. Man sollte zusammen mit seiner Zeit sterben. Wie meine Kameraden … Sie sind früh gestorben, mit zwanzig, dreißig Jahren … Glücklich sind sie gestorben … Mit ihrem Glauben! Mit der Revolution im Herzen, wie es damals hieß. Ich beneide sie. Das werden Sie nicht verstehen … ich beneide sie …»Unser kleiner Trommler, er fiel …« 4 Er fiel ehrenvoll! Für eine große Sache! (Er denkt nach.) Ich habe die ganze Zeit in der Nähe des Todes gelebt, aber selten an den Tod gedacht. Doch als ich diesen Sommer auf der Datscha war, da habe ich auf die Erde geschaut, habe geschaut und geschaut … sie ist lebendig …
» Tod und Mord – ist das etwa ein und dasselbe? Sie haben inmitten von Morden gelebt.«
(Er schweigt lange.) Für solche Fragen … Dafür hätte man Sie zu Lagerstaub zermalmt. Hoher Norden oder Erschießung – die Auswahl war klein. Zu meiner Zeit wurden solche Fragen nicht gestellt. Wir hatten keine solchen Fragen! Wir … Wir stellten uns ein gerechtes Leben vor, ohne Arme und Reiche. Wir starben für die Revolution, starben als Idealisten … als Habenichtse … Meine Freunde sind schon lange tot, ich bin allein. Ich habe keine Gesprächspartner mehr … Nachts rede ich mit den Toten … Und Sie? Sie kennen unsere Gefühle nicht und unsere Begriffe: Prodraswjorstka, Prodotrjad, Lischenez, Kombed … Porashenez, Powtornik XXII … Für Sie ist das Sanskrit! Hieroglyphen! Das Alter, das ist vor allem Einsamkeit. Der letzte alte Mann, mit dem ich bekannt war, ein Nachbar aus dem Nebenhaus, ist vor fünf Jahren gestorben. Vielleicht ist das auch schon länger her … sieben Jahre … Jetzt bin ich von Fremden umgeben. Sie kommen zu mir: aus dem Museum, aus dem Archiv … von der Lexikonredaktion. Ich bin ein Nachschlagewerk … ein lebendes Archiv. Aber Gesprächspartner habe ich keine … Mit wem ich gern reden würde? Zum Beispiel mit Lasar Kaganowitsch … Wir sind nur noch wenige, und nur wenige von uns sind noch nicht senil … Er ist älter als ich, schon neunzig. Ich habe in der Zeitung gelesen … ( Er lacht.) In der Zeitung stand, die Alten auf seinem Hof wollen nicht mit ihm Domino spielen. Oder Karten. Sie verjagen ihn: »Mörder!« Und er weint vor Kummer. Der einstige eiserne Volkskommissar. Er hat Erschießungslisten unterschrieben, hat Zigtausende Menschen zugrunde gerichtet. Dreißig Jahre lang war er an Stalins Seite. Und im Alter will niemand mit ihm Karten spielen … nicht mal Schafskopf … Gewöhnliche Arbeiter verachten ihn. (Er spricht sehr leise weiter. Ich kann ihn kaum noch verstehen. Nur einzelne Worte.) Es ist furchtbar … so lange zu leben.
… Ich bin kein Historiker, überhaupt kein Geisteswissenschaftler. Obwohl ich eine Zeitlang unser Stadttheater geleitet habe. Wo die Partei mich hinstellte, dort diente ich ihr. Ich war der Partei immer treu ergeben. An mein Leben erinnere ich mich kaum, nur an meine Arbeit. Das ganze Land war eine Baustelle … ein Hochofen … Eine Schmiede! So arbeitet heute niemand mehr. Ich schlief täglich nur drei Stunden. Drei Stunden … Wir waren fünfzig bis hundert Jahre hinter den fortschrittlichen Ländern zurück. Ein ganzes Jahrhundert. Der stalinsche Plan lautete: aufholen in fünfzehn, zwanzig Jahren. Der berühmte stalinsche Sprung. Und wir glaubten daran – wir würden aufholen! Heute glauben die Menschen an nichts mehr, aber damals haben sie geglaubt. Unbeschwert geglaubt. Unsere Losungen: »Mit revolutionären Träumen gegen den industriellen Verfall!«, »Bolschewiki
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