Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
nach Hause getragen wie heilige Texte, und wenn die Schachteln und Dosen leer waren, wurden sie nicht weggeworfen, sie bekamen einen Ehrenplatz auf dem Bücherregal oder in der Anrichte hinter Glas. Die ersten Hochglanzmagazine wurden gelesen wie Klassiker, in dem ehrfürchtigen Glauben, in dieser Verpackung, unter dieser Schale stecke das schöne Leben. Vor dem ersten McDonald’s kilometerlange Schlangen … Fernsehreportagen. Gebildete, erwachsene Menschen hoben die Schachteln und Servietten von dort auf. Zeigten sie stolz ihren Gästen.
Ein guter Bekannter von mir … Seine Frau schuftet auf zwei Arbeitsstellen, aber er hat seinen Stolz: »Ich bin Dichter. Ich werde keine Töpfe verkaufen. Das ist unter meiner Würde.« Damals waren wir, wie alle, zusammen durch die Straßen gelaufen und hatten gerufen: »Demokratie! Demokratie!« – ohne zu ahnen, was darauf folgen würde. Niemand hatte vorgehabt, Töpfe zu verkaufen. Und jetzt … Man hat keine Wahl: Entweder du ernährst deine Familie, oder du klammerst dich an deine sowjetischen Ideale. Entweder-oder … es gibt keine andere Alternative … Wenn du Gedichte schreibst, auf der Gitarre herumzupfst, klopft man dir auf die Schulter: »Schön, weiter! Schön!«, aber deine Taschen sind leer. Diejenigen, die ins Ausland gegangen sind? Dort verkaufen sie Töpfe, fahren Pizza aus … kleben in Kartonagefabriken Schachteln zusammen … Dort ist das keine Schande …
Haben Sie mich verstanden? Ich habe von Igor erzählt … Von unserer verlorenen Generation – eine kommunistische Kindheit und ein kapitalistisches Leben. Ich hasse die Gitarre … Ich kann sie Ihnen schenken …
XX Schöne Wassilissa – russische Märchenfigur.
XXI dewotschka – russ. »Mädchen«.
VON EINER ANDEREN BIBEL
UND ANDEREN GLÄUBIGEN
Wassili Petrowitsch N. –
Mitglied der Kommunistischen Partei seit 1922 , 87 Jahre alt
Nun ja … ich wollte … Die Ärzte haben mich von dort zurückgeholt … Wissen die denn, von wo sie einen da zurückholen? Ich bin natürlich Atheist, aber jetzt im Alter schon ein weniger sicherer Atheist. Du bist ganz allein damit … mit dem Gedanken, dass du gehen musst … irgendwohin … Ja, ja … Ein anderer Blick ja-a-a … Auf die Erde … auf den Sand … Ganz gewöhnlichen Sand kann ich nicht ohne Gefühle ansehen. Ich bin schon lange alt. Ich sitze mit der Katze am Fenster. (Er hat die Katze auf dem Schoß. Streichelt sie.) Wir schalten den Fernseher ein …
Und natürlich … Ich hätte nie gedacht, dass ich mal eine Zeit erleben würde, da man Denkmäler für weiße Generäle aufstellt. Früher, wer waren da die Helden? Die roten Kommandeure … Frunse, Schtschors … Und heute – Denikin, Koltschak … Obwohl noch Menschen leben, die sich daran erinnern, wie die Koltschak-Leute uns an Laternenpfählen aufhängten. Die »Weißen« haben gesiegt … So ist es doch? Und ich habe gekämpft, gekämpft und gekämpft. Wofür? Habe aufgebaut und aufgebaut … Was? Wenn ich Schriftsteller wäre, würde ich mich selbst an meine Memoiren machen. Vor kurzem habe ich im Radio eine Sendung über meinen Betrieb gehört. Ich war der erste Direktor. Sie redeten von mir, als gäbe es mich nicht mehr, als wäre ich tot. Aber ich … ich lebe noch … Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ich noch da bin … Ja! Ja, ja … (Wir lachen – zu dritt. Sein Enkel sitzt bei uns. Hört zu.) Ich fühle mich wie ein vergessenes Exponat in einem Museumsmagazin. Wie eine verstaubte Scherbe. Es war ein großes Imperium – von einem Meer bis ans andere, vom Polarkreis bis zu den Subtropen. Wo ist es hin? Besiegt ohne Bombe … ohne Hiroshima … Gesiegt hat Ihre Majestät die Wurst! Gutes Fressen hat gesiegt! Mercedes-Benz. Mehr braucht der Mensch nicht, mehr braucht ihr ihm gar nicht zu bieten. Kein Bedarf. Nur Brot und Spiele, mehr will er nicht! Und das ist die größte Entdeckung des 20. Jahrhunderts. Die Antwort auf alle großen Humanisten. Die Antwort auf alle Träumer im Kreml …Doch wir … meine Generation … wir hatten große Pläne. Träumten von der Weltrevolution: »Den Burshuis zum Unglück wollen einen Weltbrand wir entrollen.« 1 Wir werden eine neue Welt errichten und alle glücklich machen. Wir glaubten, das sei möglich, ich glaubte es aufrichtig! Ganz aufrichtig! (Er hustet und keucht.) Das Asthma … das plagt mich … Warten Sie … (Pause.) Ja, nun erlebe ich sie noch … die Zukunft, von der wir träumten. Für die gestorben
Weitere Kostenlose Bücher