Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
müssen die Technik beherrschen!« »Den Kapitalismus einholen!« Ich war kaum zu Hause … ich lebte im Betrieb … auf der Baustelle. Ja, ja … Um zwei … um drei in der Nacht konnte das Telefon klingeln. Stalin schlief nicht, er ging spät ins Bett, und dementsprechend schliefen auch wir nicht. Die leitenden Kader. Von ganz oben bis ganz unten. Ich habe zwei Orden bekommen und drei Herzinfarkte. Ich war Direktor eines Reifenwerks, Chef eines Bautrusts, von dort wurde ich ins Fleischkombinat versetzt. Ich habe das Parteiarchiv geleitet. Nach dem dritten Infarkt gaben sie mir das Theater … Unsere Zeit … meine Zeit … Das war eine große Zeit! Darum kränkt es mich … Vor kurzem hat mich ein hübsches Fräulein interviewt. Sie fing an, mich »aufzuklären«, in was für einer schrecklichen Zeit wir gelebt hätten. Sie hat in Büchern davon gelesen, aber ich habe damals gelebt. Das sind meine Wurzeln. Und sie erzählt mir: »Sie waren Sklaven. Stalins Sklaven.« Diese Rotznase! Ich war kein Sklave! Das war ich nicht! Ich komme selbst aus dem Zweifeln nicht heraus … Aber ein Sklave war ich nicht … In den Köpfen der Menschen herrscht Chaos. Alles geht da durcheinander: Koltschak 5 und Tschapajew 6 , Denikin 7 und Frunse 8 … Lenin und der Zar … Ein weiß-roter Salat. Ein Mischmasch. Ein Tanz auf den Gräbern! Das war eine große Zeit! Wir werden nie mehr in einem so starken und großen Land leben. Ich habe geweint, als die Sowjetunion zerfiel … Wir wurden sofort verflucht. Verleumdet. Der Spießer hat gesiegt. Die Laus. Der Wurm.
Meine Heimat ist der Oktober. Lenin … der Sozialismus … Ich habe die Revolution geliebt! Die Partei ist mir das Teuerste. Ich bin seit siebzig Jahren in der Partei. Das Parteibuch ist meine Bibel. (Er deklamiert . ) »Reinen Tisch macht mit dem Bedränger! Heer der Sklaven, wache auf! Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger; alles zu werden, strömt zuhauf!« Wir wollten das Himmelreich auf Erden errichten. Ein schöner, aber nicht zu verwirklichender Traum, der Mensch ist dazu nicht bereit. Er ist unvollkommen. Ja, ja … Aber von Pugatschow 9 und den Dekabristen … bis hin zu Lenin … träumten alle von Gleichheit und Brüderlichkeit. Ohne die Idee der Gerechtigkeit wird Russland anders sein, und die Menschen werden andere sein. Ein ganz anderes Land wird das sein. Wir haben die Krankheit des Kommunismus noch nicht hinter uns. Machen Sie sich keine Hoffnungen. Und die Welt auch nicht. Der Mensch wird immer von einem Sonnenstaat träumen. Schon als er noch in Fellen herumlief und in Höhlen lebte, wünschte er sich Gerechtigkeit.Denken Sie an die sowjetischen Lieder und Filme … Darin ging es um einen Traum! Um Glauben … Ein Mercedes, das ist kein Traum ….
Der Enkel schweigt während des gesamten Gesprächs. Als Antwort auf meine Fragen erzählt er nur ein paar Witze.
Ein Witz, den der Enkel erzählt hat:
»Das Jahr 1937 … Zwei alte Bolschewiki sitzen in einer Zelle. Der eine sagt: ›Nein, wir werden den Kommunismus nicht mehr erleben, aber unsere Kinder …‹ Darauf der andere: ›Unsere armen Kinder!‹«
Ich bin alt … schon lange … Aber das Alter, das ist auch interessant. Du begreifst, dass der Mensch ein Tier ist … viel Animalisches tritt auf einmal zutage … Das ist die Zeit, wie die Ranewskaja 10 mal gesagt hat, wenn die Kerzen auf der Geburtstagstorte mehr kosten als die Torte selbst und die Hälfte deines Urins für Urinproben draufgeht. (Er lacht.) Nichts schützt vor dem Alter … keine Orden … keine Medaillen … Nein … Der Kühlschrank brummt, die Uhr tickt. Sonst passiert gar nichts. (Wir reden über den Enkel. Er kocht in der Küche Tee.) Die Kinder heute … die haben nur noch den Computer im Kopf … Als der Enkel hier, er ist der jüngere, als er in die neunte Klasse ging, hat er zu mir gesagt: »Das über Iwan den Schrecklichen lese ich, aber nichts über Stalin. Ich hab ihn satt, deinen Stalin!« Sie wissen nichts, aber sie haben ihn satt. Sie sind durch damit! Alle verfluchen das Jahr 1917. »Dummköpfe!«, sagen sie über uns. »Warum haben sie die Revolution gemacht?« Aber in meiner Erinnerung … Ich erinnere mich an Menschen mit glühenden Augen … Unsere Herzen glühten! Keiner glaubt mir! Aber ich bin doch nicht verrückt … Ich erinnere mich … Ja-a-a … Diese Menschen wollten nichts für sich selbst, damals stand an erster Stelle nicht das Ich wie heute. Ein Topf Kohlsuppe … ein Häuschen …
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