Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
ein kleiner Garten … Es gab ein Wir. Wir! Wir!! Mich besucht manchmal ein Freund meines Sohnes, ein Professor von der Universität. Er fährt oft ins Ausland, hält dort Vorträge. Wir beide streiten uns, bis wir heiser werden. Ich rede von Tuchatschewski, und er darauf: Dass der rote Kommandeur die Bauern mit Gas vergiftet hat … und die Matrosen von Kronstadt aufgehängt … Erst, sagt er, habt ihr die Adligen erschossen und die Popen … das war 1917 … und 1937 wart ihr selber an der Reihe … Sogar an Lenin vergreifen sie sich. Lenin gebe ich niemals preis! Mit Lenin im Herzen werde ich sterben! Augenblick … Warten Sie … (Heftiger Husten. Wegen des Hustens ist das Weitere wieder schlecht zu verstehen.) Früher bauten die Menschen die Flotte auf, eroberten den Kosmos, und heute – Häuser, Jachten … Ehrlich gesagt, ich denke oft über gar nichts mehr nach … Ist mein Darm in Ordnung oder nicht? Das ist am Morgen wichtig. So geht das Leben zu Ende.
… Wir waren achtzehn, zwanzig Jahre alt … Worüber sprachen wir? Wir sprachen von Revolution und von der Liebe. Wir waren Fanatiker der Revolution. Aber wir stritten auch viel über das damals sehr populäre Buch von Alexandra Kollontai 11 Die Liebe der Arbeitsbienen . Sie verteidigte die freie Liebe, das heißt, die Liebe ohne alles Überflüssige … »wie ein Glas Wasser trinken« … Ohne Seufzer und ohne Blumen, ohne Eifersucht und Tränen. Liebe mit Küssen und Liebesbriefchen galt als bürgerliches Vorurteil. Das alles sollte ein echter Revolutionär in sich besiegen. Wir veranstalteten sogar Versammlungen zu diesem Thema. Unsere Ansichten waren geteilt: Die einen waren für die freie Liebe, aber mit »Flieder«, das heißt mit Gefühlen, die anderen – ohne allen »Flieder«. Ich war für »mit Flieder«, wenigstens mit Küssen. Ja! Ja, ja … ( Er lacht.) Zu der Zeit hatte ich mich gerade verliebt, ich umwarb meine künftige Frau. Wie? Wir lasen zusammen Gorki: »Tobe, Sturmwind! Tobe stärker! … Der Pinguin, der dumme Fettwanst, feige klebt er an der Felswand …« 12 Das ist dumm? Naiv? Aber auch schön. Schön, verdammt noch mal! (Er lacht ganz jugendlich. Und ich entdecke, wie schön er noch immer ist.) Tanzen … ganz normales Tanzen, das fanden wir kleinbürgerlich. Wir saßen zu Gericht über das Tanzen und bestraften Komsomolzen, die tanzten und ihren Mädchen Blumen schenkten. Ich war eine Zeitlang sogar Vorsitzender des Gerichts über das Tanzen. Wegen dieser meiner »marxistischen« Überzeugung habe ich nie tanzen gelernt. Später habe ich das bereut. Ich konnte nie mit einer schönen Frau tanzen. Ein Bär! Wir feierten Komsomolhochzeiten. Ohne Kerzen, ohne Blumenkränze. Ohne Popen. Statt Ikonen Bilder von Lenin und Marx. Meine Braut hatte langes Haar, doch zur Hochzeit ließ sie es sich abschneiden. Schönheit verachteten wir. Nun, das war natürlich nicht richtig. Eine Überspitzung, wie es später hieß … (Erneut Husten. Er winkt ab, ich soll das Diktiergerät nicht ausschalten.) Schon gut, schon gut … ich habe keine Zeit mehr zum Aufschieben … Bald werde ich zerfallen zu Phosphor, Kalzium und so weiter. Von wem werden Sie dann noch die Wahrheit erfahren? Geblieben sind nur noch die Archive. Papier. Ja, ja … Ich habe im Archiv gearbeitet, und ich weiß: Papier lügt noch schlimmer als die Menschen.
Wovon sprach ich? Von der Liebe … von meiner ersten Frau … Als unser Sohn geboren wurde, nannten wir ihn Oktjabr XXIII . Zu Ehren des zehnten Jahrestages des Großen Oktober. Ich wollte noch eine Tochter. »Wenn du ein zweites Kind von mir willst, heißt das wohl, dass du mich liebst«, lachte meine Frau. »Und wie wollen wir unser Mädchen nennen?« Mir gefiel der Name Ljublena, zusammengesetzt aus den Worten »ljublju Lenina« XXIV . Meine Frau schrieb alle ihre liebsten Mädchennamen auf ein Blatt Papier: Marxana, Stalina, Engelsina … Iskra 13 … Die waren damals am meisten in Mode. Dieses Blatt blieb dann auf dem Tisch liegen …
Den ersten Bolschewiken habe ich in meinem Dorf gesehen … Ein junger Student im Soldatenmantel. Er sprach auf dem Platz vor der Kirche: »Jetzt laufen die einen in Stiefeln herum, die anderen in Bastschuhen. Aber wenn die Bolschewiki an der Macht sind, werden alle gleich sein.« Die Bauern riefen: »Wie denn?« »Es wird eine schöne Zeit anbrechen, eure Frauen werden Seidenkleider und Absatzschuhe tragen. Es wird keine Reichen und Armen mehr geben. Allen wird es gutgehen.«Meine
Weitere Kostenlose Bücher