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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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ein großes Kind. Er schreibt Gedichte – ein Aufschrei der Seele … Als wir jung waren, hörten wir die gleichen Kassetten und lasen die gleichen sowjetischen Bücher. Fuhren das gleiche Fahrrad … In jenem Leben war alles ganz einfach: ein paar Schuhe für alle Jahreszeiten, eine Jacke, eine Hose. Wir wurden erzogen wie die jungen Krieger im alten Sparta: Wenn die Heimat es befiehlt, opfern wir uns.
    … irgendein Kriegsfeiertag … Unser Kindergarten wurde zum Denkmal für den Pionierhelden Marat Kasej geführt. »Seht ihr, Kinder«, sagte die Erzieherin, »das ist ein junger Held, er hat sich mit einer Handgranate in die Luft gesprengt und viele Faschisten getötet. Wenn ihr groß seid, müsst ihr genauso werden.« Uns auch mit einer Granate in die Luft sprengen? Ich selbst erinnere mich nicht mehr daran … das hat mir meine Mutter erzählt … In der Nacht habe ich heftig geweint: Ich muss sterben, ich werde irgendwo liegen, ganz allein, ohne Mama und Papa … und ich weine, also bin ich kein Held … Ich wurde krank.
    Als ich zur Schule ging, hatte ich einen Traum – in die Gruppe zu kommen, die am Ewigen Feuer im Stadtzentrum die Ehrenwache hielt. Dafür wurden nur die Besten genommen. Für sie wurden Militärmäntel und Ohrenklappenmützen genäht, und sie bekamen Militärhandschuhe. Das war keine öde Pflicht, jeder war stolz, wenn er ausgewählt wurde. Wir hörten westliche Musik, waren hinter Jeans her, die gab es damals schon bei uns … ein Symbol des 20. Jahrhunderts, wie die Kalaschnikow … Meine ersten Jeans waren von Montana – das war so toll! Aber nachts träumte ich davon, dass ich mich mit einer Handgranate auf den Feind stürze …
    … meine Großmutter war gestorben, und Großvater zog zu uns. Ein hoher Offizier, Oberstleutnant. Er hatte viele Orden und Medaillen, und ich löcherte ihn die ganze Zeit: »Großvater, wofür hast du diesen Orden bekommen?« »Für die Verteidigung von Odessa.« »Und was für eine Heldentat hast du vollbracht?« »Ich habe Odessa verteidigt.« Und Punkt. Ich war beleidigt. »Großvater, erzähl mir doch mal was Großes, Erhabenes.« »Da bist du bei mir falsch, geh in die Bibliothek. Hol dir ein Buch und lies.« Mein Großvater war klasse, zwischen uns stimmte einfach die Chemie. Er starb im April, dabei wollte er noch den Mai erleben. Den Tag des Sieges.
    Mit sechzehn wurde ich wie alle ins Wehrbezirkskommando bestellt. »Zu welchem Truppenteil möchtest du?« Ich erklärte, ich möchte die Schule beenden und mich dann nach Afghanistan melden. »Dummkopf«, sagte der Offizier. Aber ich bereitete mich lange darauf vor: Ich lernte Fallschirmspringen, mit der Maschinenpistole umgehen … Wir sind die letzten Pioniere des Sowjetlandes. Seid bereit!
    … Die Familie eines Jungen aus unserer Klasse wollte nach Israel ausreisen … Auf einer extra einberufenen Schulversammlung wurde auf ihn eingeredet: Wenn deine Eltern ausreisen wollen – sollen sie, aber bei uns gibt es gute Kinderheime, dort kannst du die Schule beenden und in der UdSSR bleiben. Für uns war er ein Verräter. Er wurde aus dem Komsomol geworfen. Am nächsten Tag fuhr unsere Klasse in den Kolchos zur Kartoffelernte, er kam auch, musste aber aus dem Bus wieder aussteigen. Die Schuldirektorin warnte beim Appell: Wer ihm schreibt, wird Schwierigkeiten bekommen, die Schule zu beenden. Als er weg war, schrieben wir ihm trotzdem alle …
    … während der Perestroika … Dieselben Lehrer sagten: Vergesst alles, was wir euch früher beigebracht haben, lest Zeitung. Wir lernten nach Zeitungen. Die Abschlussprüfung in Geschichte wurde ganz gestrichen, wir mussten keine KPdSU -Parteitage mehr pauken. Auf der letzten Demonstration zum Jahrestag der Oktoberrevolution bekamen wir noch Plakate und Funktionärsporträts in die Hand gedrückt, aber das war für uns schon so was wie der Karneval für die Brasilianer.
    … ich weiß noch, wie die Leute mit Säcken voll sowjetischem Geld durch die leeren Geschäfte liefen …
    Ich ging an die Uni … Tschubais agitierte für die Vouchers, er versprach, ein Voucher würde so viel wert sein wie zwei Wolgas – und jetzt ist er zwei Kopeken wert. Eine bewegte Zeit! Ich verteilte in der Metro Flugblätter … Alle träumten von einem neuen Leben … Träumten … Träumten von massenhaft Wurst an den Ladentheken, zu sowjetischen Preisen, und dass die Politbüromitglieder sich wie alle anderen danach anstellen würden. Wurst als Maß aller Dinge. Die Liebe zur Wurst

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