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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Mutter wird ein Seidenkleid anziehen, meine kleine Schwester Absatzschuhe. Ich werde studieren … Alle werden Brüder sein, alle werden gleich sein. Wie soll man einen solchen Traum nicht liebgewinnen! Den Bolschewiki haben die Armen geglaubt, die Besitzlosen. Die Jugend folgte den Bolschewiki. Wir liefen durch die Straßen und riefen: »Die Glocken runter – für Traktoren!« Von Gott wussten wir nur, dass es keinen Gott gibt. Wir lachten über die Popen, zerhackten zu Hause die Ikonen. Statt Kreuzprozessionen Demonstrationen mit roten Fahnen … (Er hält inne.) Das habe ich wohl schon erzählt? Die Sklerose … Ich bin alt … schon lange … Ja, ja … Der Marxismus wurde unsere Religion. Ich war glücklich, dass ich zur selben Zeit wie Lenin lebte. Wenn wir zusammensaßen, sangen wir die Internationale. Mit fünfzehn, sechzehn war ich schon Komsomolze. Kommunist. Ein Soldat der Revolution. (Er schweigt.) Den Tod fürchte ich nicht … in meinem Alter … Unangenehm ist nur … Unangenehm ist er mir aus einem einzigen Grund: Irgendwer muss herkommen und sich um meinen Körper kümmern. Die Scherereien mit dem Körper … Ich bin einmal in die Kirche gegangen. Habe den Priester kennengelernt. Er sagte: »Man muss beichten.« Ich bin alt … Und ob es Gott gibt oder nicht, das erfahre ich auch so bald. (Er lacht.)
    … Wir waren ständig hungrig … schlecht gekleidet … Aber Subbotniks machten wir das ganze Jahr über, auch im Winter. Bei Frost! Meine Frau besaß nur einen leichten Mantel, und sie war schwanger. Wir luden auf der Bahnstation karrenweise Kohle und Brennholz ab. Ein fremdes junges Mädchen, das neben uns arbeitete, fragte meine Frau: »Du hast so einen leichten Mantel an. Hast du nichts Wärmeres?« »Nein.« »Weißt du was, ich habe zwei. Ich hatte einen guten Mantel und habe vom Roten Kreuz noch einen neuen bekommen. Sag mir, wo du wohnst, ich bringe ihn dir heute Abend vorbei.« Am Abend brachte sie den Mantel, nicht ihren alten, nein, den neuen. Sie kannte uns gar nicht, es genügte, dass wir Parteimitglieder waren und sie auch. Wir waren wie Brüder und Schwestern.In unserem Haus lebte ein blindes Mädchen, sie war seit ihrer Kindheit blind, und sie weinte, wenn wir sie nicht mitnahmen zum Subbotnik. Sie könne zwar kaum helfen, aber sie würde mit uns zusammen singen. Unsere Revolutionslieder!
    Meine Kameraden … sie liegen unter Steinplatten … Auf den Steinen ist eingemeißelt: Mitglied der Partei der Bolschewiki seit 1920 … 1924 … 1927 … Auch nach dem Tod war wichtig: Welchen Glauben hattest du? Parteimitglieder wurden gesondert begraben, in einem Sarg mit rotem Fahnentuch.Ich erinnere mich an den Tag, als Lenin starb … Wie? Lenin ist tot? Das kann nicht sein! Er ist doch ein Heiliger … (Er bittet seinen Enkel, kleine Lenin-Büsten und -Figuren vom Regal zu nehmen, und zeigt sie mir. Sie sind aus Bronze, aus Gusseisen, aus Porzellan.) Eine ganze Sammlung … Alles Geschenke. Und gestern … Da höre ich im Radio: Dem Lenin-Denkmal im Stadtzentrum wurde ein Arm abgesägt. Für Schrott … für ein paar Kopeken … Das war mal eine Ikone. Ein Gott! Und jetzt – Buntmetall. Das kilogrammweise verkauft und gekauft wird … Aber ich lebe noch … Der Kommunismus ist verfemt! Der Sozialismus ist schon ein Dreck! Sie sagen zu mir: »Wer nimmt denn heute den Marxismus noch ernst? Er gehört in die Geschichtsbücher.« Doch wer von euch kann behaupten, dass er den späten Lenin gelesen hat? Dass er den ganzen Marx kennt? Es gibt den frühen Marx … und Marx am Ende seines Lebens … Das, was heute als Sozialismus beschimpft wird, hat mit der sozialistischen Idee überhaupt nichts zu tun. Die Idee ist nicht schuld. (Er hustet wieder und spricht undeutlich.) Die Menschen haben ihre Geschichte verloren … und sind nun ohne Glauben … Was du auch fragst – nur leere Blicke. Die Natschalniks haben gelernt, sich zu bekreuzigen, aber die Kerze halten sie in der rechten Hand, wie ein Wodkaglas. Den naphtalingetränkten zweiköpfigen Adler haben sie wieder herausgeholt … die Kirchenfahnen und Ikonen … (Plötzlich ganz deutlich:) Das ist mein letzter Wunsch – schreiben Sie die Wahrheit. Aber meine Wahrheit … nicht Ihre eigene … Damit meine Stimme bleibt …
     
    Er zeigt mir seine Fotos. Hin und wieder kommentiert er etwas.
     
    … Sie brachten mich zum Kommandeur. »Wie alt bist du?«, fragte der Kommandeur. »Siebzehn«, log ich. Ich war noch keine sechzehn. So wurde ich

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