Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
wollte nicht in einem deutschen Konzentrationslager verrotten.‹ Junge Kerle, in unserem Alter. Wenn man mit einem gesprochen hat, ihm in die Augen gesehen … dann ist es schwer, ihn zu töten … Am nächsten Morgen wurden wir alle in der Sonderabteilung verhört: ›Warum habt ihr euch auf Gespräche mit den Verrätern eingelassen? Warum habt ihr sie nicht gleich erschossen?‹ Ich wollte mich rechtfertigen … Der Vernehmer legte seine Pistole auf den Tisch: ›Du Schwein reißt noch das Maul auf?! Noch ein Wort, und …‹ Für die Wlassow-Soldaten gab es keine Gnade. Panzersoldaten banden sie an ihre Panzer, ließen den Motor an … und fuhren los, in verschiedene Richtungen … Sie wurden in Stücke gerissen … Verräter! Aber waren sie wirklich alle Verräter?«
     
    »Vor der Sonderabteilung hatten alle mehr Angst als vor den Deutschen. Selbst die Generale hatten Angst …«
     
    »Angst … den ganzen Krieg hindurch hatte man Angst …«
     
    »Aber wenn Stalin nicht gewesen wäre … Ohne eine eiserne Hand hätte Russland nicht überlebt …«
     
    »Ich habe nicht für Stalin gekämpft, ich habe für die Heimat gekämpft. Ich schwöre bei meinen Kindern und Enkeln, ich habe nie gehört, dass jemand gerufen hätte ›Für Stalin!‹«
     
    »Ohne den Soldaten kann man keinen Krieg gewinnen.«
     
    »Verdammt …«
     
    »Fürchten muss man nur Gott. Er ist der Richter.«
     
    »Wenn es den lieben Gott gibt …«
     
    (Ein unsicherer Chor:) »Wir hoffen auf den einen Sieg nur, dafür ist uns kein Preis zu hoch …« 8
Geschichte eines Mannes
     
    Das ganze Leben lang – Hände an die Hosennaht! Keinen Mucks hab ich gewagt. Jetzt will ich reden …
    Als Kind … Solange ich denken kann … da hatte ich immer Angst, meinen Vater zu verlieren … Die Väter wurden nachts abgeholt, und sie verschwanden im Nichts. So verschwand der Bruder meiner Mutter, mein Onkel Felix. Er war Musiker. Verhaftet wurde er wegen einer Dummheit … einer Bagatelle … Er hatte im Laden laut zu seiner Frau gesagt: »Nun haben wir schon zwanzig Jahre Sowjetmacht, aber anständige Hosen gibt es noch immer nicht zu kaufen.« Heute liest man oft, alle seien dagegen gewesen … Aber ich sage Ihnen – das Volk hat die Verhaftungen unterstützt. Nehmen wir meine Mutter … Ihr Bruder saß, doch sie sagte: »Das mit unserem Felix ist ein Irrtum. Das wird bestimmt bald geklärt. Aber Verhaftungen müssen sein, bei den vielen schlimmen Dingen um uns herum.« Das Volk hat das unterstützt … Der Krieg! Nach dem Krieg wagte ich kaum, mich an den Krieg zu erinnern … An meinen Krieg … Ich wollte in die Partei eintreten, wurde aber nicht genommen: »Was bist du für ein Kommunist, wenn du im Ghetto warst?« Ich habe geschwiegen … immer geschwiegen … In unserer Partisaneneinheit gab es ein junges Mädchen, Rosotschka, ein hübsches jüdisches Mädchen, sie schleppte ständig Bücher mit sich herum. Sechzehn war sie. Die Kommandeure schliefen reihum mit ihr … »Ihre Haare da unten sind noch wie bei einem Kind … Haha …« Rosotschka wurde schwanger … Sie führten sie ein Stück tiefer in den Wald und erschossen sie wie einen Hund. Kinder wurden öfter geboren, klar, der ganze Wald war voller gesunder Kerle. Die übliche Praxis war: Gleich nach der Geburt wurde das Kind ins nächste Dorf gebracht. In den nächsten Weiler. Aber wer würde schon ein jüdisches Kind nehmen? Juden durften keine Kinder bekommen. Als ich von einem Auftrag zurückkehrte, fragte ich: »Wo ist Rosotschka?« »Was kümmert’s dich? Ist die eine weg, findet sich eine andere.« Hunderte Juden, die aus den Ghettos geflohen waren, irrten durch die Wälder. Die Bauern machten Jagd auf sie und lieferten sie an die Deutschen aus, für ein Pud Mehl, für ein Kilo Zucker. Schreiben Sie das auf … ich habe so lange geschwiegen … Der Jude hat sein Leben lang vor irgendetwas Angst. Egal, wo ein Stein hinfällt, er trifft immer einen Juden.
    Wir hatten es nicht geschafft, das brennende Minsk zu verlassen – wegen meiner Großmutter. Großmutter hatte 1918 die Deutschen erlebt und redete uns allen ein, die Deutschen seien eine kultivierte Nation und würden friedlichen Einwohnern nichts tun. Bei ihnen zu Hause sei ein deutscher Offizier einquartiert gewesen, der hätte jeden Abend Klavier gespielt. Und meine Mutter schwankte – weggehen oder nicht? Wegen dieses Klaviers natürlich … So verloren wir viel Zeit. Deutsche auf Motorrädern kamen in die Stadt. Leute in

Weitere Kostenlose Bücher