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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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wie: »Was seid ihr schon für Kämpfer? Ihr lasst euch wie die Schafe zur Schlachtbank führen …« »Jidden sind feige …« Ich schwieg dazu. Ich hatte einen Freund, das war ein mutiger Junge … David Grinberg … er schwieg nicht. Er stritt mit ihnen. Er wurde mit einem Schuss in den Rücken getötet. Ich weiß, wer das getan hat. Derjenige ist heute ein Held – läuft mit Orden herum. Ein großer Held! Zwei Juden wurden erschossen, weil sie angeblich auf Wachposten geschlafen hatten … Ein anderer, weil er eine nagelneue Parabellum besaß … aus Neid … Aber wohin sollte ich fliehen? Ins Ghetto? Ich wollte die Heimat verteidigen … Rache nehmen für meine Familie … Und die Heimat? Die Partisanenkommandeure hatten geheime Order aus Moskau, Juden nicht zu trauen, sie nicht in ihre Einheiten aufzunehmen, sie zu vernichten. Wir galten als Verräter. Heute wissen wir das, dank der Perestroika.
    Der Mensch tut einem leid … Und die Pferde, wie die sterben? Ein Pferd verkriecht sich nicht wie andere Tiere – ein Hund, eine Katze, selbst eine Kuh läuft weg, ein Pferd aber steht da und wartet, bis es getötet wird. Ein schlimmer Anblick … Im Film stürmen die Kavalleristen mit Geschrei voran und schwingen den Säbel. Blödsinn! Spinnerei! In unserer Einheit hatten wir eine Zeitlang einen Reitertrupp, der wurde schnell wieder aufgelöst. Pferde können nicht über Schneewehen laufen, schon gar nicht galoppieren, sie bleiben darin stecken, die Deutschen aber hatten Motorräder, mit zwei oder drei Rädern, im Winter schnallten sie Skier darunter. Damit fuhren sie herum und knallten lachend unsere Pferde samt Reitern ab. Schöne Pferde verschonten sie manchmal, vermutlich kamen viele von ihnen vom Land …
    Wir hatten den Befehl, die Hütte eines Polizisten niederzubrennen … Mit der ganzen Familie … Es war eine große Familie: Frau, drei Kinder, Großvater und Großmutter. In der Nacht wurde die Hütte umstellt … die Tür vernagelt … Die Hütte mit Benzin übergossen und angezündet. Da drinnen schrien und heulten sie. Ein Junge versuchte, durchs Fenster rauszukriechen … Ein Partisan wollte ihn erschießen, aber ein anderer hinderte ihn daran. Er warf den Jungen zurück ins Feuer. Ich war vierzehn Jahre alt … Ich verstand nichts … Alles, was ich tun konnte, war, das nicht zu vergessen. Und nun habe ich es erzählt … Ich mag das Wort »Held« nicht … im Krieg gibt es keine Helden … Wenn jemand ein Gewehr in die Hand nimmt, ist er kein guter Mensch mehr. Das kann er nicht mehr sein.
    Ich erinnere mich an einen Kessel … Die Deutschen wollten ihr Hinterland säubern und schickten SS -Divisionen gegen die Partisanen. Sie warfen Fallschirme mit Lampions ab und bombardierten uns Tag und Nacht. Danach beschossen sie uns mit Minenwerfern. Unsere Einheit zog sich in kleinen Gruppen zurück, Verwundete wurden mitgenommen, aber man verband ihnen den Mund, und Pferde bekamen spezielle Maulkörbe umgeschnallt. Wir ließen alles stehen und liegen, auch die Haustiere, aber sie liefen uns hinterher. Kühe, Schafe … Wir mussten sie erschießen … Die Deutschen kamen immer näher, so nahe, dass wir schon ihre Stimmen hörten … ihre Zigaretten rochen … Jeder von uns hielt eine letzte Patrone bereit … Aber zum Sterben ist es nie zu spät. In der Nacht … wir waren nur noch drei in der Gruppe … da schlitzten wir toten Pferden den Bauch auf, warfen alle Eingeweide heraus und krochen selbst hinein. Zwei Tage verbrachten wir so, wir hörten die Deutschen hin und her laufen. Und schießen. Schließlich herrschte vollkommene Stille. Da krochen wir heraus: Voller Blut, voller Därme … voller Scheiße … Halb von Sinnen. Es war Nacht … der Mond schien …
    Auch die Vögel, sage ich Ihnen, auch die Vögel halfen uns … Wenn die Elster einen fremden Menschen hört, schreit sie. Gibt ein Signal. An uns waren sie gewöhnt, aber die Deutschen rochen anders: Sie hatten Eau de Cologne, duftende Seife, Zigaretten, Mäntel aus gutem Soldatentuch … und gut gewichste Stiefel … Wir hatten selbstangebauten Tabak, Lumpen und Schuhe aus Ochsenleder, die wir mit Riemen festbanden. Sie hatten wollenes Unterzeug … Wir zogen die Toten bis auf die Unterhosen aus! Hunde nagten an ihren Gesichtern, an ihren Händen. Selbst die Tiere wurden in den Krieg hineingezogen …
    Viel Zeit ist seitdem vergangen … ein halbes Jahrhundert … Aber sie kann ich nicht vergessen … diese Frau … Sie hatte zwei Kinder. Kleine

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