Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)
hoffe, es reicht, um mich zu begraben … ein Sarg ist nicht nötig … Was ich anhabe, genügt, aber vergesst nicht, mir den Ausweis des Verteidigers der Festung Brest in die Tasche zu legen – für unsere Nachfahren. Wir waren Helden, aber wir sterben in Armut! Lebt wohl, trauert nicht um einen Tataren, der allein für alle protestiert: ›Ich sterbe, aber ich ergebe mich nicht. Leb wohl, Heimat!‹«
Nach dem Krieg wurde im Keller der Festung eine Inschrift gefunden, die jemand mit einem Bajonett in die Wand gekratzt hatte: »Ich sterbe, aber ich ergebe mich nicht. Leb wohl, Heimat! 22.7.41.« Auf Beschluss des ZK wurde diese Zeile zum Symbol des Heldenmuts des sowjetischen Volkes und seiner Treue zur Sache der KPdSU . Überlebende Verteidiger der Festung erklärten, Autor dieser Inschrift sei ein Schüler der Regimentsschule, der parteilose Tatar Timerjan Sinatow, aber die kommunistischen Ideologen schrieben sie lieber einem gefallenen unbekannten Soldaten zu.
Die Kosten für das Begräbnis übernahm die Stadt. Beerdigt wurde der Held aus dem Fonds für »laufende Unterhaltskosten baulicher Objekte«.
KPRF . Sistemny wsgljad 2 . Ausgabe 5
Warum hat sich der alte Soldat Timerjan Sinatow vor einen Zug geworfen? Dazu möchte ich weiter zurückgehen … Zu einem Brief von Viktor Jakowlewitsch Jakowlew aus dem Dorf Leningradskaja im Gebiet Krasnodar an die Prawda . Er ist Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, hat 1941 Moskau verteidigt und an der Moskauer Parade anlässlich des 55. Jahrestages des Sieges teilgenommen. Eine große Kränkung veranlasste ihn, an die Zeitung zu schreiben.
Vor kurzem war er mit einem Freund (einem ehemaligen Oberst und ebenfalls Kriegsveteran) in Moskau. Aus diesem Anlass trugen beide ihr bestes Jackett mit den Ordensspangen. Müde von dem Tag in der lauten Hauptstadt, wollten sie auf dem Leningrader Bahnhof bis zur Abfahrt des Zuges noch irgendwo sitzen. Es gab nirgends freie Plätze, also gingen sie in einen halbleeren Saal, in dem es »ein Büfett und weiche Sessel« gab. Sofort kam eine junge Frau auf sie zugelaufen, die Getränke austrug, und wies ihnen grob die Tür: »Hier dürfen Sie nicht rein. Das ist der Business-Saal!« Weiter heißt es in dem Brief: »Ich antwortete hitzig: ›Das ist also nur für Diebe und Spekulanten, nicht für uns? Wie früher in Amerika: Zutritt für Neger und Hunde verboten.‹ Was gab es da noch zu sagen, es war ohnehin alles klar. Wir drehten uns um und gingen. Aber ich sah noch, wie einige dieser sogenannten Geschäftsleute – oder schlicht Gauner – da lachten, fraßen und soffen … Es ist schon vergessen, dass wir hier Blut vergossen haben … Alles haben sie uns weggenommen, diese Schweine, die Tschubaisse 3 , Wekselbergs 4 und Grefs 5 … Unser Geld, unsere Ehre. Unsere Vergangenheit und unsere Zukunft. Alles! Und jetzt sollen unsere Enkel als Soldaten ihre Milliarden verteidigen. Ich habe eine Frage: Wofür haben wir gekämpft? Wir haben im Schützengraben gesessen, im Herbst bis zu den Knien im Wasser, im Winter bei grimmigem Frost bis zu den Knien im Schnee, haben monatelang nicht die Kleider gewechselt und nicht wie Menschen geschlafen. Vor Kalinin, vor Jachroma, vor Moskau … Dort gab es keine Trennung zwischen ›Armen‹ und ›Reichen‹ …«
Man kann natürlich einwenden, dass der Veteran unrecht hat – nicht alle Geschäftsleute sind »Diebe und Spekulanten«. Aber betrachten wir unser postsowjetisches Land mal mit seinen Augen … Den Hochmut der neuen Herren des Lebens, ihre Geringschätzung gegenüber den »Gestrigen«, von denen, wie es in den Hochglanzmagazinen heißt, »der Geruch der Armut« ausgeht. Danach riechen nach Meinung der Autoren dieser Medien die Festversammlungen in den großen Sälen am Tag des Sieges, zu denen die Veteranen einmal im Jahr eingeladen werden und wo man ihnen heuchlerische Lobreden hält. In Wirklichkeit braucht sie heute niemand mehr. Naiv sind ihre Ideen von Gerechtigkeit. Und ihre Treue zur sowjetischen Lebensweise …
Zu Beginn seiner Präsidentschaft schwor Jelzin, er werde sich auf die Gleise legen, wenn er eine Senkung des Lebensniveaus des Volkes zuließe. Das Lebensniveau ist nicht bloß gesunken, es ist regelrecht in den Abgrund gestürzt. Doch Jelzin hat sich nicht auf die Gleise gelegt. Vor einen Zug gelegt hat sich im Herbst 1992 zum Zeichen des Protests der alte Soldat Timerjan Sinatow …
Website der Prawda , 1997
Beim Totenmahl
Das ist bei uns Brauch:
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