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Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition)

Titel: Secondhand-Zeit: Leben auf den Trümmern des Sozialismus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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bestickten Hemden begrüßten sie mit Brot und Salz. Voller Freude. Viele glaubten: Jetzt sind die Deutschen da, nun beginnt ein normales Leben. Viele hassten Stalin und verbargen das nun nicht mehr. In den ersten Kriegstagen gab es so viel Neues und Unverständliches …
    Das Wort »Jidd« hörte ich in den ersten Kriegstagen … Unsere Nachbarn klopften an unsere Tür und riefen: »He, ihr Jidden, jetzt ist es aus mit euch! Für Christus werdet ihr büßen!« Ich war ein sowjetischer Junge, hatte gerade die fünfte Klasse abgeschlossen, ich war zwölf Jahre alt. Ich verstand nicht, was sie da sagten. Warum redeten sie so? Ich verstehe es auch jetzt nicht … Unsere Familie war gemischt, Vater war Jude, Mutter Russin. Wir feierten Ostern, aber auf eine besondere Weise: Mutter sagte, das sei der Geburtstag eines guten Menschen. Und buk einen Kuchen. Und zu Pessach (als Gott sich der Juden erbarmte) brachte Vater von Großmutter Matzen mit. Aber zu der Zeit wurde darüber nicht offen gesprochen … man musste schweigen …
    Meine Mutter nähte uns gelbe Sterne an … Mehrere Tage lang konnte keiner von uns aus dem Haus gehen. Aus Scham … So alt, wie ich bin, erinnere ich mich noch immer an dieses Gefühl … Wie ich mich geschämt habe … Überall in der Stadt lagen Flugblätter herum: »Liquidiert die Kommissare und die Juden!« »Befreit Russland von der jüdisch-bolschewistischen Macht!«. Ein solches Flugblatt schob uns jemand unter die Tür … Bald … ja … Bald kamen Gerüchte auf: Die amerikanischen Juden sammelten Gold, um alle Juden freizukaufen und nach Amerika zu bringen. Die Deutschen liebten die Ordnung und könnten die Juden nicht leiden, darum müssten die Juden für die Dauer des Krieges ins Ghetto … Die Menschen suchten einen Sinn in dem, was vorging … irgendeinen roten Faden … Selbst die Hölle möchte der Mensch verstehen. Ich erinnere mich … Ich erinnere mich gut an unseren Umzug ins Ghetto. Tausende Juden liefen durch die Stadt … mit Kindern, mit Kissen … Ich nahm, das ist zum Lachen, ich nahm meine Schmetterlingssammlung mit. Heute ist das zum Lachen … Die Minsker kamen herausgelaufen: Manche schauten uns neugierig an, andere schadenfroh, aber einige weinten auch. Ich blickte mich kaum um, ich fürchtete, einen der Jungen zu sehen, die ich kannte. Ich schämte mich … ich erinnere mich an ein ständiges Gefühl der Scham …
    Meine Mutter nahm ihren Ehering ab, wickelte ihn in ein Taschentuch und sagte mir, wohin ich gehen sollte … In der Nacht kroch ich unterm Stacheldrahtzaun hindurch … An der verabredeten Stelle erwartete mich eine Frau, ich gab ihr den Ring und bekam dafür Mehl. Am Morgen sahen wir, dass ich statt Mehl Kreide gebracht hatte. Schlemmkreide. So ging Mutters Ring weg. Weitere Wertsachen besaßen wir nicht … Wir hungerten … Vor dem Ghetto standen immer Bauern mit großen Säcken. Tag und Nacht. Sie warteten auf den nächsten Pogrom. Wenn Juden zur Erschießung fortgebracht wurden, ließ man die Bauern herein, und sie plünderten die verlassenen Häuser. Die Polizisten suchten nach Wertsachen, die Bauern packten alles ein, was sie fanden. »Ihr braucht sowieso nichts mehr«, sagten sie zu uns.
    Einmal wurde es im Ghetto plötzlich still wie vor einem Pogrom. Aber es fiel kein einziger Schuss. An diesem Tag wurde nicht geschossen … Autos … viele Autos … Aus den Autos stiegen Kinder in guten Anzügen und Schuhen, Frauen mit weißen Schürzen, Männer mit teuren Koffern. Schicke Koffer waren das! Alle diese Leute sprachen deutsch. Die Begleitmannschaften und Wachsoldaten waren verwirrt, besonders die Polizisten, sie brüllten nicht, schlugen niemanden mit Knüppeln und ließen ihre knurrenden Hunde nicht von der Leine. Ein eigenartiges Schauspiel … Theater … eine Theatervorstellung … Noch am selben Tag erfuhren wir, dass dies Juden aus Europa waren. Sie hießen bald »Hamburger« Juden, denn die meisten von ihnen kamen aus Hamburg. Sie waren diszipliniert und gehorsam. Sie tricksten nicht, betrogen die Wachen nicht, verkrochen sich nicht in Geheimverstecken … sie waren zum Untergang verurteilt … Uns behandelten sie von oben herab. Wir waren arm, schlecht gekleidet. Wir waren anders … sprachen nicht deutsch …
    Sie wurden alle erschossen. Zehntausende »Hamburger« Juden …
    An diesen Tag erinnere ich mich kaum … es ist alles wie im Nebel … Wie wurden wir aus dem Haus getrieben? Wie transportiert? Ich erinnere mich an ein großes

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