S.E.C.R.E.T.
Einerseits hätte ich mir jedes einzelne Gesicht gern genau angesehen, andererseits jeden Blickkontakt am liebsten vermieden. Ich faltete meine Hände fest im Schoß. Dann setzte ich mich darauf, in dem verzweifelten Versuch, nicht wie ein Teenager herumzuzappeln. Du bist fünfunddreißig, Cassie, werd erwachsen !
Matildas Stimme klang dumpf in meinem Kopf, als sie jede einzelne Frau vorstellte. Meine Augen wanderten von einem Gesicht zum anderen. Ich versuchte, mir Züge und Namen einzuprägen. Und ich bemerkte, dass jede von ihnen auf unterschiedliche Weise schön war.
Da war Bernice, dunkle Haut, rote Haare, üppig, klein und vollbusig. Sie war jung, vielleicht dreißig. Außerdem gab es eine Reihe Blondinen: Daphne war groß und trug das Haar lang und glatt, Jules hatte kurze, freche Locken. Michelle: eine kurvenreiche brünette Frau mit engelsgleichem Gesicht, die sich die Hände vor den Mund hielt, als ob ich bei einer Tanzvorführung etwas besonders Bewundernswertes getan hätte. Dann beugte sie sich vor und flüsterte einer Frau etwas zu, die mir gegenübersaß und Brenda hieß. Brenda hatte einen wohl definierten, durchtrainierten Körper und trug Sportkleidung. Roslyn mit den langen, kastanienbraunen Haaren saß neben ihr. Sie hatte die größten braunen Augen, die ich je gesehen habe. Dann gab es noch zwei Latino-Frauen, die nebeneinandersaßen – eineiige Zwillinge. Marias Augen blickten entschlossen drein, Marta machte einen heiteren und offenen Eindruck. Jede der Frauen am Tisch trug das vertraute goldene Bettelarmband.
»Und schließlich sitzt neben Ihnen Amani Lakshmi, die schon am längsten von uns allen dem Komitee angehört. Tatsächlich war sie meine Begleiterin, so wie ich Ihre Begleiterin sein werde«, erläuterte Matilda.
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Cassie«, sagte Amani mit leichtem Akzent und hob ihren schlanken Arm, um mir die Hand zu schütteln. Sie war die Einzige im Zimmer, die zwei Armbänder trug, eines an jedem Handgelenk. »Bevor wir beginnen: Haben Sie irgendwelche Fragen?«
»Wer ist die Frau auf dem Gemälde?«, hörte ich mich sagen.
»Carolina Mendoza, die Frau, die all das hier möglich gemacht hat«, antwortete Matilda.
»Und es immer noch ermöglicht«, fügte Amani hinzu.
»Das stimmt. Solange wir ihre Bilder haben, haben wir die Mittel, S.E.C.R.E.T.s in New Orleans weiterzuführen.«
Matilda schilderte, wie sie Carolina vor mehr als fünfunddreißig Jahren kennengelernt hatte. Damals arbeitete sie noch als Kulturbeauftragte für die Stadt. Carolina war Künstlerin und stammte ursprünglich aus Argentinien. In den Siebzigerjahren floh sie aus ihrem Land, kurz bevor der Militärputsch es Künstlern und Feministinnen gleichermaßen verbot, frei und in aller Öffentlichkeit Kunstwerke zu schaffen und zu reden. Sie lernten sich bei einer Kunstauktion kennen. Carolina begann gerade ihre Werke auszustellen – große Leinwände in lebhaften Farben und Wandbilder, wie sie für Frauen zu dieser Zeit untypisch waren.
»Das alles sind ihre Gemälde? Auch die in der Lobby?«, fragte ich.
»Ja, deshalb sind wir so gut abgesichert. Jedes Einzelne ist Millionen wert. Ein paar weitere befinden sich noch in der Villa.«
Matilda erzählte weiter, wie sie und Carolina begannen, Zeit miteinander zu verbringen, was Matilda überraschte, weil sie seit Langem keine neuen Freundschaften mehr geschlossen hatte. »Es war keine erotische Beziehung, aber wir sprachen häufig über Sex. Nach einer Weile kannte sie mich gut genug, um mich ins Vertrauen zu ziehen. Sie stellte mir ihre geheime Welt vor, in der sich Frauen versammelten, um miteinander über ihre intimsten Wünsche zu sprechen, ihre verborgensten Fantasien. Dabei müssen Sie bedenken, dass es damals alles andere als üblich war, über Sex zu reden. Und schon gar nicht darüber, wie sehr man ihn genießt.«
Zunächst hielt Carolina nur informelle Treffen ab, Zusammenkünfte gleichgesinnter Künstlerinnen, Freundinnen oder unkonventioneller Typen aus der Gegend, die es in New Orleans immer schon gegeben hatte. Die meisten waren alleinstehend, manche Witwen, ein paar seit vielen Jahren verheiratet, einige von ihnen sogar glücklich. Fast alle Frauen waren erfolgreich und über dreißig. Aber in ihrer Ehe oder ihrem Leben fehlte irgendetwas.
Matilda wurde Carolines exklusive Kunsthändlerin, und die Gemälde verkauften sich schon bald zu astronomischen Preisen. Schließlich veräußerte Caroline einige an die
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