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Seehamer Tagebuch

Seehamer Tagebuch

Titel: Seehamer Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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hat: — er hat. Es muß auch solche Tage geben, pflegte Mama zu sagen.
    Und dann ruft jemand an. »Wie geht’s euch denn so?« wird gefragt. »Danke, ausgezeichnet!« erwidere ich freudig bewegt. Und bemerke erst dann, daß ich die Wahrheit gesagt habe.
     
     
     

2 . März
     
    Makabre Geschichten, in denen Tote nicht zur Ruhe kommen, werden von den meisten Menschen als Auswüchse einer irregeleiteten Phantasie abgelehnt. In jener Zeit, die Papa als »Hochschwabing« bezeichnete, wurde Gustav Meyrink für seine Spielereien mit dem Unheimlichen angegriffen. (Auf so etwas Ausgefallenes käme nur jemand, der gelegentlich zu Rauschgift griffe, urteilte man.) Nie wäre es ihm eingefallen, einen Planeten zu erfinden, der von einem toten Hund und einem toten Mann, in Metallkapseln eingelötet, umkreist wird — wie der unsrige.
     
     
     

3 . März
     
    Man hört nur noch selten: »Ich bin traurig. Ich bin verzweifelt.« Es heißt jetzt: »Ich bin zur Zeit so depressiv.« Will man sich mit einem Wort am Leiden vorbeimogeln, als sei das Leiden eine Blamage, ein Versagen? Muß man es darum ins Klinische, also Heilbare umdeuten?
    Bei dieser Inflation der Fachausdrücke erwarte ich demnächst zu hören: » Sie war so deprimiert über den Tod ihres Mannes.«
     
     
     

4 . März
     
    Die Gelehrten haben festgestellt, daß das Gedächtnis der Menschheit in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hat. Sie sprechen vom »köstlichen Erinnerungsvermögen der Analphabeten«, und wir hören traurig, daß die Menschenfresser sich jahrelang Dinge merken können, die in unserem Kopf gar nicht registriert werden. Ja, selbst unsere Großväter waren uns darin noch überlegen. Erst neulich hat mir ein alter Herr so viele Strophen eines Gedichtes auswendig aufsagen können, daß darüber die Suppe kalt wurde. (Er erinnerte sich sogar, von mir angestachelt, noch an jede Adresse, an der er jemals gewohnt hatte, und daran, was die Frau seines Deutschlehrers für eine Geborene war.)
    Bei uns steht es darin schlechter. Wer jemals die einander widersprechenden Zeugenaussagen bei einem Verkehrsunfall gehört hat, gibt den Gelehrten recht, die da sagen, daß wir für das Wesentliche überhaupt keinen Blick mehr haben. Das Wesentliche wäre in dem Fall die Unterscheidung von rechts und links, von schnell und langsam, von Standlicht und Scheinwerferlicht. Aber trotzdem: von uns wird ein bißchen viel verlangt. Wie viele Tausende von Informationen soll ich geordnet im Kopf haben: Welche Telefonnummer meine Schwägerin hat, in welche Elektrische man zum Zoologischen Garten umsteigen muß, was ich gestern der Gemüsefrau gezahlt habe und wer in dem Film in der kleinen Kreisstadt die Partnerin von O. W. Fischer ist. Da bleibt für das, was ich mir merken will, gar kein Platz. Ich habe in meiner Not zu Papier und Bleistift gegriffen und schreibe mir Besorgungen vorher auf, um nicht von irgend etwas unterwegs abgelenkt zu werden. Natürlich kommt es vor, daß man einer Bekannten begegnet, die auf freundlichen Gruß mit abwesendem Lächeln murmelt: »Einlegesohlen, Bügelschnur, Mottenpulver.« Das sind nämlich die drei Dinge, die sie vergessen hat, auf den Zettel in ihrer Hand zu schreiben. Auf dem Zettel stehen die übrigen vierzehn. Ich habe sogar schon erlebt, daß jemand einen Rundgang durch die Stadt abbrechen mußte, nicht weil man ihm das Portemonnaie gestohlen hatte, sondern weil er seinen Besorgungszettel irgendwo hatte liegenlassen.
    Die Regel der alten Schule lautete: Trainieren, trainieren! — Auswendig lernen, Kolonnen sich merken, immer längere. Die moderne Schule sagt: Ballast über Bord. Das Gehirn nimmt nur Teilstücke auf. (»Mittwoch, Mittwoch, was sollte ich den bloß heute...? Was hast du gesagt, was wir gegen Abend nicht vergessen dürfen zu tun...?«) Zettel anlegen, das Unwichtige aufschreiben, erledigen, abhaken, Zettel wegwerfen. Das, wobei das Gefühl beteiligt ist, vergißt man ja sowieso nicht. (Zentimeterlänge des Kindes, Schuhgröße des Mannes, einen Todestag, den Namen jener Dame, von der ein Ehemann neulich sagte, sie sei phantastisch.)
    »Du mit deinem wunderbaren Gedächtnis« — heißt es, beinahe vorwurfsvoll. Es ist keine reine Freude, diese Gottesgabe. Setzt es nämlich einmal wider Erwarten aus, so habe ich niemanden, den ich fragen kann: »Du, wo war das, wo der Ober uns damals falsch herausgegeben hat?« Oder: »Wie hießen die Leute, die sich unsere Kaffeemühle leihen wollten?« Eisern erwidert mir

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